Auch deine Seele ist eine Plastiktüte

Nicolas Stemann streicht den ganzen »Faust« und ist auf gar keinen Fall postdramatisch, auch wenn alle es behaupten, sogar er selbst ein wenig – und dazu ein paar Erinnerungen an den Sommer

Das postdramatische Theater bewegt sich nicht im geringsten (Bild: HHF)

Warm ste­ht die Luft über den Pflaster­steinen an diesem Abend, vergessen ist dieser Som­mer, der kein­er war. Ein dun­kler Klein­wa­gen parkt im Schein der Straßen­later­nen, mit geöffneter Heck­lappe in ein­er Park­bucht, im Kof­fer­raum lagern Weinküh­ler und Blechkuchen. Und um den Wagen ste­hen Bürg­er in angeregter Unter­hal­tung umher, ein paar Dutzend andere flanieren mit aufgeklappten weißen Lunch­box­en auf dem Platz herum. Dazwis­chen eilt ein Mann im Hochzeits­bit­ter­anzug mit Blu­mengesteck am Revers durch die Menge.  Es dies ist nicht Glyn­de­bourne, es ist auch keineswegs Bayreuth, all die kauen­den und reden­den Men­schen machen Pause, der Mann mit der Blume heißt Nico­las Ste­mann und er ist Regis­seur. Es ist die erste Pause seines acht­stündi­gem Faust-Dop­pelschlags am Thalia-The­ater in Ham­burg, vom Haus eigen­tüm­lich sportlich meta­phernd als “Faust-Marathon” verkauft. Denn sportlich ist außer Nico­las Ste­manns Eile nichts, hier, an diesem wohl let­zten Som­mer­abend des Jahres.

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Dem Som­meridyll voraus­ge­gan­gen war des Dra­mas erster Teil, der her­auf, herab und quer und krumm gespielte, der alte Zugochse des deutschen Gym­nasiallehrers. Die Geschichte ist so bekan­nt, der Holper­vers so einge­bran­nt ins ger­man­is­che Bil­dungsstammhirn, daß es eigentlich nichts mehr bedarf bei diesem Stück. Christoph Marthaler führte das 1993 vor, als er den großen Joseph Bier­bich­ler nur noch “…a…e …u… a… …i…o…o……ie, …u…i……e…ei u…… …e…i…i…” lau­tieren ließ, eben die Wurzel aller Wirkungs­geschichte, aller Ref­er­en­tial­ität, aller Zitaten­hu­berei. Ste­mann ist an diesem lan­gen Abend des Jahres 2011 von ander­er math­e­ma­tis­ch­er Dis­po­si­tion, ihn inter­essiert zwar die Reduk­tion, weniger aber das Ergeb­nis denn der Lösungsweg.

Viele Dinge wer­den da unwichtig. Abwe­send ist das Büh­nen­bild, alles was man benötigt, ist immer da – mal die Schwelle für das “Pen­ta­gram­ma” samt dran­hän­gen­der Tür, mal ein Tisch, ein Stuhl, ein Bett. Es reicht aus. Man darf dies auf keinen Fall mit ein­er leeren Konzept­bühne ver­wech­seln, mit der Konzen­tra­tion vorgeben­den Ödnis, wie sie in let­zter Zeit wieder Mode gewor­den ist. Es ist ein­fach neben­säch­lich. Es gibt eine Über­titelungsan­lage, die die Szene­nangaben über­mit­telt, gele­gentlich auch einen Sub­text. Vier große Edel­stahlpan­ele, je zwei an den Seit­en­por­tal­en, die bei Musik- und Tonein­sätzen vor sich hin vib­ri­eren und auch noch weit­ere Bes­tim­mung haben. Gele­gentlich sind da Video­pro­jek­tio­nen auf der Hin­ter­bühne zu sehen, schemen­hafte Bilder aus dem Gegen­re­ich, unprä­ten­tiös wer­den da zwei Pro­jek­toren auf die Bühne gerollt und hin­ter­her wieder abgeräumt. Aus und fer­tig.

Noch viel unwichtiger ist die Anwe­sen­heit von Faust- und/oder Mephis­to-Stars. Es gibt keine ikonis­chen Schaus­piel­er­per­sön­lichkeit­en, die in Inter­views sagen, sie wür­den die Rolle ihres Lebens spie­len wollen. Philipp Hochmair, Sebas­t­ian Rudolph sind alles und spie­len alles, natür­lich aus­geze­ich­net, der eine etwas physis­ch­er disponiert als der andere, ohne einen Gegen­satz zu wollen. Später gesellt sich Patrycia Ziolkows­ka dazu, eine bish­er gele­gentlich leicht zu unter­schätzende Schaus­pielerin; hier, auf dieser Bühne, in dieser Nacht, eine Darstel­lerin von unge­heur­er Exzel­lenz und großar­tiger Uneit­elkeit. Auch sie ist alles, ist das Stück, ist Faust, Mephis­to, Mar­garete und­so­fort.

Ver­spielt ist es schon, was da die “kleine Welt” zeigt. Ste­mann ent­fer­nt sich über­haupt nicht vom Mate­r­i­al, die Geschichte läuft kon­se­quent lin­ear, seine Ein­las­sun­gen sind, zumin­d­est in ein­er Ebene eben­so kon­se­quent rezep­tion­skri­tisch. Es kann schon vorkom­men, daß all das dräuende Schul­rez­i­tieren, die unge­heure “Bedeu­tung”, das Dichter­fürsten­tum, das deutsche Nation­al­dra­ma und was da noch so alles dran­hängt, schnell und knapp auf die Schul­bank gedrückt wer­den, da sitzt dann Philipp Hochmair, die glühen­den, elek­trischen Hörnchen noch im Haar, mit den Fin­gern schnipsend auf dem Stuhl und weiß den Text. So schnell wird man den Deu­tungs-Bal­last aus 200 Jahren für den Moment los, übrig bleibt das Spiel. Das große Inter­pre­tenthe­ater bleibt aus, ger­adezu ele­gant wird dieser Kom­men­tar dann, wenn, wie in der Walpur­gis­nacht­szene die – und das ist am The­ater, wo jed­er Schaus­piel­er mal so eben auch ein biss­chen sin­gen muß, sel­ten – wirk­lich aus­geze­ich­nete Sopranistin Friederike Harm­sen Texte aus dem grü­nen Reclam-Erläuterungs-Heftchen singt. Solch dif­feren­ziertes Spiel mit Bedeu­tungsebe­nen war sel­ten, auch am viel- und hochdeko­ri­erten Thalia-The­ater.

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Der fort­laufende Gedanke, es han­dele sich in erster Lin­ie um das Spiel gegen den über Dekaden eingepauk­ten Ein­druck eines Stück­es, ist ein­er der klügeren dieser Deu­tung. Nico­las Ste­mann weiß um den Bal­last und the­ma­tisiert das auch. Das ist unendlich befreiend und läßt an die Sub­stanz des Textes glauben, an eine Stärke hin­ter der schriftlichen, der lit­er­arischen Inter­pre­ta­tion. Die kommt auch zu Wort, spät, tief in der Tragödie zweit­en Teils. Auf den glänzen­den Prosze­ni­ums­blechen und auf der Hin­ter­bühne tauchen die Stim­men und Bilder des Schul­funks, der uni­ver­sitären Deu­tung auf, pro­fes­so­rale Kom­mentare und Deu­tun­gen. Irgend­wann ver­s­tum­men sie, die Bilder laufen weit­er, die Deu­tung und weit­ere tex­tim­ma­nente Inter­pre­ta­tion ver­s­tum­men mit den Worten. Übrig bleibt das Stück, die Iko­nen­haftigkeit ist ver­schwun­den, hier ist Kathar­sis, gar Frei­heit. Da wird selb­st ein Geheim­rat zum Rev­o­lu­tionär.

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Über­haupt das Stück. Es ist fehlbar, unzweifel­haft. Es fehlt dem Dra­matik­er Goethe an vielem, an der dra­matur­gis­chen Ele­ganz eines Less­ing, an poli­tis­chem Ver­lan­gen, wie es in Lenz bran­nte und an der gewalt­samen und gewalti­gen Verve, mit der Kleist die Sprache tötete und wieder­aufer­ste­hen ließ. Das erste Stück ist hölz­ern und unvol­len­det, das Zweite  zer­fasert, hochtö­nend, wirr gar und dem Spiele so gar nicht zugeneigt – dem Ver­dacht, daß die ganze Jahrmark­ts­bu­den­haftigkeit, die das alles umhüllt, tat­säch­lich dem the­atralen Hor­i­zont des Dichters entspricht, ist nie so ganz auszuwe­ichen. Aber der Stoff scheint anre­gend, Gespen­ster­spiele, Hybris, Trieb­haftigkeit, Macht­streben alles drin, auch bei Ste­mann. Hin und wieder hat er einen starken Hang zu den Show­büh­nen dieser Welt, blutiges Geld (Dol­larnoten mit Dichter­fürstenkon­ter­fei!) schwebt ins Par­kett, aber so was ste­ht natür­lich auch in der goetheschen Bret­ter­bude vortr­e­f­flich an. Der Spielleit­er selb­st führt in leicht ver­schämter Manier durch den Abend, deswe­gen der dun­kle Anzug mit dem Sträußlein am Revers, nachger­ade eine Per­si­flage auf den “erk­lärten” Text, den man ander­weit­ig schon bewun­dern durfte. Auch die Über­titelung der Szenen tut das ihre zum Show­biz dazu. Erk­lär mich, ruft es, und das, was wir sehen, tut das Gegen­teil davon.

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Dazu kommt der Unsinn mit der Post­dra­matik, den so manch ein­er in Ste­manns Wirken zu erken­nen glaubt.

“Das Adjek­tiv ‘post­drama­tisch’ benen­nt ein The­ater, das sich ver­an­laßt sieht, jen­seits des Dra­mas zu operieren, in ein­er Zeit ’nach’ der Gel­tung des Par­a­dig­ma Dra­ma im The­ater.” – so ste­ht das beim The­aterthe­o­retik­er Hans-Thies Lehmann.

Jen­seits des Dra­mas, sein­er Struk­tur und sein­er Ästhetik ist nichts in diesem Faust. Der Regis­seur hat auch hier – den Inter­pre­ten schon vor­greifend – ein zauber­haftes Rezept der Inter­pre­ta­tionsver­nich­tung. Da sitzt dann eine ger­adezu bern­hardtsche Fig­ur da, eine Wag­n­er-Vari­a­tion in Rheumadecke, minet­ti­haft dröh­nend, und schwadroniert über die Erfind­ung des post­drama­tis­chen The­aters “damals auf Kamp­nagel, Video­pro­jek­tio­nen, erin­nern sie sich, ich habe es erfun­den – ich, der post­drama­tis­che Geheim­rat”. Was ein Schlag!

Wenn dann noch die ganz wun­der­bare Bar­bara Nüsse den Geheim­rat gibt – “Der ganze Faust – ungestrichen!”, Gustaf Gründ­gens als Stabpuppe auftritt und am Ende Faustens Seele nur eine dürre Plas­tik­tüte ist, die eben­so wie vor­dem die Ban­knoten ins Pub­likum entschwebt, wenn alle mit dem schö­nen Schluß­choral “Am Weibe hängt’s, zum Weibe drängt’s” das Spiel beschließen, ist tat­säch­lich fast alles gesagt. Boy meets Girl, ok?

Und dann geht man hin­aus in die stille, die let­zte Som­mer­nacht, und noch immer sind die Steine warm.

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