Bene-Diktum: Befördrer vieler Lustbarkeiten

Impressionen und Lektüren bei schönstem Sommerwetter an der Alster – ein Rückblick auf den Sommer

Als es Sommer war. (Bild:© Paul Maurice - Fotolia.com)
Als es Som­mer war. (Bild:© Paul Mau­rice — Fotolia.com)

Man muss es doch ein­mal sagen – es gibt wohl keine Stadt in Deutsch­land, die so her­rlich mit einem See mit­ten in ihrem Zen­trum geseg­net ist wie Ham­burg. Der Rokokodichter Friedrich von Hage­dorn fasste es vor 270 Jahren schon in Worte:

Beför­dr­er viel­er Lust­barkeit­en
Du angenehmer Alster­fluß
Du mehrest Ham­burgs Sel­tenheit­en
Und ihren fröh­lichen Genuß.

Leicht war es in diesem Som­mer einzus­tim­men in sein auf­fordern­des Lob. Wie aber kon­nte es dazu kom­men? Die Erk­lärung ist ein­fach:

Der Elbe Schif­fahrt macht uns reich­er
Die Alster lehrt gesel­lig sein.
Durch jene füllen sich die Spe­ich­er
auf dieser schmeckt der fremde Wein.

Was damals nur von den priv­i­legierten Stän­den galt, kann heute von allen genossen wer­den. Das sel­ten gle­ich­mäßig schöne Som­mer­wet­ter im Juli und August steigerte das Alster­erleb­nis zu einem Vergnü­gen in Per­ma­nenz: Segel­boote, Kanus, Pad­del- und Rud­er­boote, Kajaks und als neueste Errun­gen­schaft der mar­iti­men Fort­be­we­gung, die SUP, die Stand Up Pad­dler auf ihren Surf­bret­tern.

O siehst du jemals ohn Erget­zen
Ham­mo­nia! des Walles Pracht
Wann ihn die blauen Wellen net­zen
Und jed­er Früh­ling schön­er macht?

Wann jenes Ges­tade
Das Flo­ra geschmückt
So manche Najade
gefäl­lig erblickt.

Gemeint ist bei Hage­dorn wohl der Wall zwis­chen Bin­nen-und Auße­nal­ster. Najaden, die im See schwim­men, sind sel­ten, denn das Alster­wass­er ist zwar sauber­er gewor­den, aber Baden in der Alster ist noch nicht erlaubt. Allerd­ings traf ich kür­zlich mor­gens eine ältere Najade am Anleger Fährdamm, die ihre Sachen ablegte und dann mit einem Köpfer ins Alster­wass­er tauchte.

Dabei schimpfte sie auf die Arbeit­er der Stadtreini­gung, die die Pflanzen an der Ufer­böschung, “Flo­ras Schmuck”, see­len­los abgemäht hät­ten, in ihrem lieblosen Ord­nungs­drang.

Hier lärmt in Nächt­en voll Vergnü­gen
Der Pauken Schlag, des Wald­horns Schall
Hier wirkt bei Wein und süßen Zügen
Die rege Frei­heit über­all.

Wie schön die Gesel­ligkeit doch zu Hage­dorns Zeit­en war, da hat man noch sel­ber Musik gemacht, vielle­icht eine Ser­e­nade gespielt, so stellt man sich das vor. Heute kann es passieren, dass von der nahen Musikhochschule die Klänge eines Kam­merensem­bles herübertö­nen –  jedoch höre ich vom gegenüber­liegen­den Ufer häm­mernde Beats, es sind die Cruise Days.

Aber immer­hin – über­all am Ufer haben sich Men­schen niederge­lassen zu zweit, in kleinen Grup­pen, essen, trinken, reden, am Schwa­nen­wik sind es oft Hun­derte, die dort grillen: Rauch­schwaden steigen auf zu dem Stand­bild Drei Män­ner im Boot, nun ja — auch das ist eine Form “reger Frei­heit”.

Nichts lebet gebun­den
Was Fre­und­schaft hier paart
O glück­liche Stun­den!
O liebliche Fahrt.

Ja, gele­gentlich sieht man das noch in Abend­stun­den, wenn ein Als­ter­dampfer vorüber­gleit­et, auf dem eine Musikkapelle spielt …
Mit einem Wort: Man muss gar nicht weit reisen, um diese Freuden zu genießen. Hier ist sie ja noch — die Auße­nal­ster, der See mit­ten in der Stadt, der dies Vergnü­gen der Som­mer­frische, des Urlaubs an einem Ges­tade gewährt.

Beson­ders der Alster­park auf der Har­veste­hud­er Seite, das weite Alster­vor­land mit seinen alten Bäu­men und Büschen, hat es mir in diesem Som­mer ange­tan. Auf der Wiese in einem der begehrten weißen Gartens­es­sel sitzen und lesen, schlafen und träu­men, beobacht­en, und, wenn man nicht allein ist, reden, vielle­icht auch ein­mal sin­gen.

Und um einen herum die grasenden Gänse, die gele­gentlich erschrock­en auf­fliegen, wenn ein Hun­debe­sitzer seinem tölpel­haften Liebling freien Lauf lässt. Oder ein­fach nur den Blick schweifen lassen über den kleinen Teich mit sein­er japanis­chen Miniatur-Pagode und der geschwun­genen Brücke bis zum See.

Ab und an ein Segel, ein weißer Als­ter­dampfer. Indem ich so mit meinem Blick das zufäl­lige Arrange­ment erfasse, komme ich mir ein wenig vor wie im Park von Wör­litz in der Nähe von Dessau, mit seinen geschickt arrang­ierten Blick­ach­sen.

Sitzen und Lesen. Am Tag des Viertel­fi­nal­spiels Deutsch­land gegen Frankre­ich beginne ich mit der Lek­türe von Jörn Leon­hards Geschichte des Ersten Weltkriegs Die Büchse der Pan­do­ra. Ich lese, wie die europäis­chen Großmächte in diesen Krieg stolpern, nicht ger­ade wie Schlafwan­dler, aber doch jew­eils über­fordert.

Lese, wie im Juli nach dem Atten­tat von Sara­je­wo eine Ver­trauen­skrise sich bre­it­macht, durch ein dif­fus­es Zusam­men­wirken von Ereignis­sen und Unter­stel­lun­gen entste­ht eine eigene Real­ität, die von der Diplo­matie nicht mehr zu meis­tern ist.

Und dann beson­ders schock­ierend zu lesen: wie inner­halb eines Kriegsmonats das maschinelle Töten durch die Artillerie und die MGs in ein­er bis dato unvorstell­baren Weise eskalierte, 27.000 Tote an einem Tag bei den Fran­zosen im Elsaß, ähn­lich in der Marne-Schlacht auf deutsch­er Seite.

Nach­dem ich 150 Seit­en gele­sen habe, brauche ich eine Pause, packe ich meine Sachen zusam­men und gehe das nahe Restau­rant am Alster­an­leger, um mir das Viertel­fi­nal-Spiel Deutsch­land gegen Frankre­ich anzuschauen. Den Wet­tkampf der Urenkel der 1. Weltkrieg­steil­nehmer, falls sie denn Söhne und Enkel hat­ten.

Die Stim­mung ist gut, aber nicht über­schwänglich, dies­mal gewin­nt Deutsch­land, 1:0. Wie schön in einem befriede­ten Europa zu leben, in dem der Fußball den Krieg abgelöst hat, auch wenn es an den Rän­dern zün­delt.

Ich set­ze mich in einen Lieges­tuhl und denke an die Klassen­fahrt nach Nord­frankre­ich 1959, als wir Kriegs­gräber auf einem ver­wilderten deutschen Sol­daten­fried­hof pflegten und mit ein­er franzö­sis­chen Jugend­gruppe aus Lille in Kon­takt kamen, eine Vor­form jen­er deutsch-franzö­sis­chen Fre­und­schaft, die dann zwis­chen Ade­nauer und de Gaulle in Reims feier­lich besiegelt wurde. Alles lange her, und doch präsent an diesem friedlichen Abend des sportlichen Siegs über den ehe­ma­li­gen Erzfeind.

Das schöne Wet­ter hielt an, ich saß weit­er an der Alster und las Don­na Tarts 1.000-seitigen Roman Der Dis­telfink – 8 Tage lang, jeden Tag 100 bis 150 Seit­en. Die Geschichte von Theo Deck­er, der als Dreizehn­jähriger seine ihn allein­erziehende Mut­ter in einem New York­er Muse­um durch einen Ter­ro­ran­schlag ver­liert, auf sich allein gestellt zurück­bleibt, der sich ständig Vor­würfe macht, Schuld am Tod der Mut­ter zu sein. Auch das berühmte Gemälde von Carel Fab­ri­tius “Der Dis­telfink”, das seit jen­em Tag ver­boten­er­weise in seinem Besitz ist, kann ihn nicht trösten.

Theo find­et wird vor­läu­fig von der begüterten Fam­i­lie seines Schul­fre­un­des Andy aufgenom­men, wird von seinem Vater, der auf ein­mal auf­taucht, nach Las Vegas geholt, wo sich dieser als Glücksspiel­er betätigt, lernt dort Boris ken­nen, eine Fre­und­schaft – ein biss­chen wie in Her­rn­dorfs Tschick – entwick­elt sich, mit Schul- und Dro­gen­aben­teuern.

Dann der näch­ste Schlag – der ger­ade zurück­ge­wonnene Vater stirbt bei einem Autoun­fall. Zurück nach New York ver­strickt Theo sich nach Abschluss des Col­lege-Besuchs in krim­inelle Prak­tiken der Möbel­restau­rierung. Das kost­bare Bild, von seinem Fre­und Boris entwen­det, wird zum Tauschob­jekt in Gang­s­ter­deals, geht ver­loren, taucht in Ams­ter­dam wieder auf. Es kommt zu ein­er Schießerei – und schließlich doch zu einem Hap­py End­ing.

Wow! 1.020 Seit­en an der Alster gele­sen. Ein span­nend geschrieben­er kluger Roman, der kun­st­geschichtlich auf der Höhe ist und die New York­er Lebenswel­ten dif­feren­ziert schildert. Ein Entwick­lungsro­man über einen jun­gen Mann, der einen erzäh­lerischen Sog entwick­elt, dem man sich schw­er entziehen kann.

Als ich die Absper­rung des Alster­wegs passiere, sehe ich einen daran befes­tigten DIN A4-Zettel, auf dem eine Frau um die 40 einen ca. 1,90 großen Mann mit “alsterblauen Augen”, dem sie gestern zulächelte – und er zurück –bit­tet, doch Kon­takt mit ihr aufzunehmen – sie gibt ihre Mail-Adresse an. “Schamver­lust. Vom Wan­del der Gefühlskul­tur” von Ulrich Grein­er ist wohl das näch­ste Buch, das ich an der Alster lesen werde.

Die Alster, Fluss und See, Augen­trost zu jed­er Tageszeit. Wie schön der Blick am Mor­gen von der Fern­sicht­brücke auf die Stadt­sil­hou­ette mit den geliebten Kirchtür­men, die sich jet­zt durch den Bau der Elbphil­har­monie lei­der nicht zum Vorteil verän­dert. Wie blank geputzt frisch leuchtet das Wass­er. Wie fast mediter­ran färbt sich die Wasser­fläche ins Tief­blaue, in der “blauen Stunde” der Dämmerung.An der Stelle sitze ich auf der Bank, da, wo früher das Uhlen­horster Fährhaus stand, diesen Blick von dort mal­ten Bon­nard, Vuil­lard und Lieber­mann …

Und wenn dann noch der Mond groß aufge­ht wie dieser Tage, ist das Glück fast vol­lkom­men. Fehlen nur noch die Klänge des vom Ham­burg­er Tanzkapellmeis­ter Oscar Fetrás geschriebe­nen Walz­ers “Mond­nacht auf der Alster”, der in mein­er Jugend oft im Wun­schkonz­ert des NWDR gespielt wurde.

Hinterlasse jetzt einen Kommentar

Kommentar hinterlassen

E-Mail Adresse wird nicht veröffentlicht.


*