Anything Goes

Aus dem Baukasten der Kulturgeschichte: Franz Schrekers Oper »Der ferne Klang« hatte am Lübecker Theater Premiere, inszeniert von Jochen Biganzoli

Der ferne Klang
Die Welt als Modul (© Raimond Spekking / CC BY-SA 4.0 (via Wikimedia Commons))
Man stelle sich doch ein­mal die Kul­turgeschichte des ger­ade begin­nen­den 20. Jahrhun­derts als einen wun­der­samen Baukas­ten vor, als ein Kon­glom­er­at unter­schiedlich­ster musikalis­ch­er und gesellschaftlich­er Topoi und Bilder – eine Melange aus den Motiv­en und Stilkün­sten der musikalis­chen und drama­tis­chen Leit­fig­ur Wag­n­er, dem roman­tis­chen Schmelz eines Carl Maria von Weber und jenen Bildern von Frauen, Män­nern und den eng an den Regeln der bürg­er­lichen Gesellschaft lehnen­den Topoi, die sich in der Lit­er­atur der Zeit find­en. Baute man eine Oper aus all diesen Bausteinen zusam­men, so hieße diese “Der ferne Klang” und ihr Kom­pon­ist wäre der Wiener Franz Schrek­er. “Der ferne Klang” ist ein Werk von viel­er­lei Gestalt, ein Kon­glom­er­at allzu ver­trauter Ele­mente aus dem Fun­dus des bürg­er­lichen Musik­the­aters.

Der Plot ist kol­portage­haft, die Musik exegetisch und erzeugt jenes bürg­er­liche Wohlbefind­en eines dif­fusen Wieder­erken­nens, das sich aus dem Gewohn­ten schöpft. Das Stück fasst die The­men ein­er frisch erlebten freudi­an­is­chen Wende, man erken­nt die Arche­typen, find­et “das gefal­l­ene Mäd­chen” eben­so wie den Kün­stler­charak­ter, der seine “einzige Liebe” für seine Kun­st, eben jenen “fer­nen Klang” aufgibt, schafft Charak­tere, die eng ver­wandt sind mit all ihren Brüdern und Schwest­ern, die Kundry heißen mögen, Adri­an Lev­erkühn, Lulu oder auch Isol­de oder gar Max. Dabei ist es nicht ein­mal wichtig, diese Vor­bilder und Bilder direkt zu iden­ti­fizieren, es zählt das Gefühl der Bekan­ntheit und des Erken­nens, eine ver­traute Atmo­sphäre eines bil­dungs­bürg­er­lichen Kanons.

Der kanon­is­che Zugang ist in der soge­nan­nten klas­sis­chen Musik bis heute der gültige, um mithören und sprechen zu kön­nen. “Der ferne Klang” trifft ins Herz des bürg­er­lichen Wohlbe­ha­gens, und das mag einen großen Teil des Erfolges aus­machen, den das 1912 uraufge­führte Werk hat­te und der irrlichtern­den Zeit zwis­chen den Weltkriegen seinen kurzen Pop­u­lar­ität­shöhen­flug hat­te. Franz Schrek­er starb, bevor bürg­er­liche Bar­baren die Macht über­nah­men, auch sie fol­gten kanon­is­ch­er Beflis­senheit, die sie aber nicht an der Ausübung ihrer Bar­barei hin­derte.

Man trifft also in der Geschichte auf die aus klein­bürg­er­lichen Ver­hält­nis­sen stam­mende Grete Grau­mann (nomen est omen), der Vater ein Trinker, ihr zuge­tan­er Verehrer Fritz ist ein mit der Vol­lkom­men­heit rin­gen­der Kom­pon­ist. Der geht nun auf eine kün­st­lerische Helden­reise, um seinen Gral zu find­en, den titel­geben­den “fer­nen Klang”, das Mäd­chen, vom Vater “verkauft”, wird von der unschuldigen Muse zur käu­flichen Lebe­dame, nach langer Reise find­et der ewig suchende die einst verehrte Braut wieder, sein Wah­n­werk wird aufge­führt, scheit­ert, er stirbt an der Seite sein­er ein­sti­gen Gefährtin den Liebes- oder Kün­stler­tod.

Warum sollte also im noch jun­gen 21. Jahrhun­dert dieses Werk zu ein­er Spielzeit­eröff­nung tau­gen, in einem über­aus lebendi­gen Stadtthe­ater, wie es nun ger­ade in Lübeck der Fall war? Die Antwort ist ein­er­seits vol­lkom­men triv­ial: Weil es immer noch gut funk­tion­iert. Genau wie das Opern­pub­likum vor 100 Jahren ent­deck­en wir auch heute noch jenen atmo­sphärischen Wohllaut, sind beein­druckt von der Opu­lenz der Orchestrierung, die den kleinen Orch­ester­graben des Lübeck­er Hause so sehr sprengt, dass sper­riges Gerät wie Schlag­w­erk und Har­fen in die Seit­en­lo­gen aus­ge­lagert wird.

Der Klang des Orch­esters unter Andreas Wolf, der sich erneut dafür emp­fiehlt, seine inter­im­istis­chen GMD-Stelle endlich in den realen Vol­lzeit­posten überge­hen zu lassen, ist groß und voll und schön. Das Ensem­ble und der aufge­stock­te Chor leis­ten viel und die Gast­stars in den Haup­trollen, Cor­nelia Ptassek als Grete und Zoltán Nyári als Fritz sind vor­wiegend prächtig disponiert. Auch an Schauw­erten ist einiges aufge­boten (Bühne: Wolf Gut­jahr, Kostüme: Katha­ri­na Weis­senborn), die Tristesse des Grau­mannschen Eltern­haus­es find­et sich in einem transluzen­ten Wohn­wa­gen­con­tain­er wieder, die Traum- und Glitzer­welt des Boudoirs find­et sich in büh­nen­haushohen Lurexvorhän­gen – all das putzt ganz unge­mein, und man ist satt und voll und zufrieden vor so viel Kun­st und Kun­st­fer­tigkeit.

Allein – das reicht nicht, um den “Fer­nen Klang” im Jahr 2017 zu einem her­aus­ra­gen­den The­ater­ereig­nis wer­den zu lassen, dazu bedarf es ander­er Antworten auf die ein­gangs gestellte Frage, jene, die über die schrek­er­schen Min­i­malan­forderun­gen und über die andere, die alte Zeit hin­aus­re­ichen. An dieser Stelle müsste sich das The­ater vom Stof­flichen lösen und sein kanon­is­ches Wohlbe­ha­gen ver­lassen – und das tut es auch.

Denn, kurz bevor die Macht der Gewohn­heit den Sieg davon­trägt, kurz bevor die Decke des Beha­gens ob all der Schön­heit den Zuschauer schme­ichel­nd ein­hüllt und man sich einen expres­sion­is­tis­chen Aus­bruch in der Manier eines Jakob van Hod­dis (“Dem Bürg­er fliegt vom spitzen Kopf der Hut” – tat­säch­lich ja eine Zeile aus dem Jahr 1911) sofort her­bei­wün­scht, in diesem Moment fliegen die Türen des The­aters auf: Wel­tende, kurzfristig.

"Der ferne Klang"
Glit­ter And Be Gay (Bild: Stef­fen Gottschling)

“Mätzchen” tönt es da sofort im Lübeck­er Pub­likum und man schaut irri­tiert nach links und rechts. Dort tum­melt sich das wie mul­ti­pliziert erscheinende Per­son­al der Bühne, Her­ren­re­it­er­fig­uren im Frack wie goldglitzern­den Kokot­ten. Man reicht unverse­hens den Scham­pus, das Amüse­ment geht laut Laut­sprech­er im ganzen Hause weit­er. Im Foy­er gibt es Solis­tenge­sang und in der Mitte des Entrées wer­den Texte rez­i­tiert. Wenn man in all dem Durcheinan­der sich besin­nt, dann fällt einem Peter Kon­witschnys Geniestre­ich zu Don Car­los am Anfang des Jahrtausends in Ham­burg wieder ein, wo Insze­nierung und Pause auf ähn­liche Weise sich mis­cht­en, dort ging es einst um Macht und Medi­en.

Dann hört man hier und da ein­mal genau hin und, man staunt, der rez­i­tierende Herr im Frack extem­po­ri­ert Texte von Richard Wag­n­er und des zer­brech­lich-misog­y­nen Philosophen Otto Weinigers Lobpreisun­gen des­sel­ben als “größten Men­schen seit Chris­tus”. Das hier ist allerd­ings kein inter­ak­tives The­ater, die Akteure sind nicht nah­bar und wollen auch nicht mit­spie­len, trotz zur Schau gestell­ter Konzil­ianz – alle tra­gen ver­spiegelte Brillen, sind nicht ansprech­bar und ziehen posierend ihre Run­den. Da wird es auch nichts für den flanieren­den reifer­en Her­ren, der vielle­icht selb­st gern ein­mal im Frack ins Max­im gin­ge. So ist die Welt eben nicht mehr – oder eben doch?

Mit dem Moment der Türöff­nung im The­ater ist das Werk beina­he obso­let, an seine Stelle tritt die Insze­nierung als primär­er Bedeu­tungsträger. Regis­seur Jochen Bigan­zoli hat sich den kleinen his­torischen Bedeu­tungs-Baukas­ten gegrif­f­en und genau das getan, was die immer noch andauernde Post­mod­erne erfordert – eine spielerische Neuord­nung der Bedeu­tungsebe­nen, den Neuauf­bau der vie­len Bausteine, aus denen “Der ferne Klang” zusam­menge­set­zt ist. Es tritt damit aus der bürg­er­lichen Behaglichkeit der Bilder und ver­traut­en Topoi das Unbe­ha­gen her­aus, die Irri­ta­tion, die die beklagten “Mätzchen” her­vorgerufen hat, macht den The­aters­es­sel unbe­que­mer, je länger der Abend dauert.

Schon im Paus­en­in­ter­mez­zo erlebt der Besuch­er die Dynamik zwis­chen Aus­ge­set­zt­sein und Kollek­tiver­fahrung. Die Anonymisierung der Charak­tere, obschon sie noch Rol­len­na­men tra­gen, erschw­ert das vorge­gaukelte Zuge­hörigkeits­ge­fühl und führt zugle­ich in einen Zwis­chen­raum zwis­chen Rezep­tion und Beteili­gung. Später, auf der Bühne erleben wir die Ausstel­lung des Kollek­tivs wie die Vere­inzelung gle­icher­maßen. In einem kurzen Moment formieren sich die großbürg­er­lich mask­ierten und uni­for­men Salonbe­such­er zu ein­er amor­phen Masse, das Gesellschaft­skollek­tiv find­et sich zu einem Grup­pe­narrange­ment, das ein­er Jus­tine-Para­phrase würdig ist. An solchen Stellen ist die Zuge­hörigkeit zum bürg­er­lichen Kollek­tiv für jeden in Frage gestellt, spielt das opern­hafte des Stoffs kaum noch eine Rolle. Alle kol­portage­haften Arrange­ments des Werkes wer­den aufgelöst, jene Rückbesin­nun­gen, die die Mech­a­nis­men des Stück­es all­seits so vortr­e­f­flich bedi­enen, sind nur noch Zitate aus einem schemen­haften kul­turellen Gedächt­nis. So funk­tion­iert Dekon­struk­tion, die Frage allerd­ings, was das alles im Heute noch bedeuten kann, ste­ht weit­er im Raum.

Vielle­icht ist dies ein Ansatz: In ein­er Zeit, in der gesellschaftliche Prob­leme grund­sät­zlich als indi­vidu­elle Erfahrung ver­han­delt wer­den, das kopfnick­ende Selb­st­beken­nt­nis zur Bestä­ti­gung ein­er Hal­tung deklar­i­ert wird, ist die Spiegelung kollek­tiv­er Dynamiken, wie sie Bigan­zoli auf Bühne und Par­kett darstellt, umso rel­e­van­ter. Und es ist anscheinend nicht das Sprechthe­ater, das sich seit eini­gen Jahren den irrlichtern­den post­drama­tis­chen Indi­vid­u­al­is­men ver­liert, die Kun­st der Stunde, son­dern die als elitär und eit­el ver­schriene Oper. Sie erre­icht an Aben­den wie diesen, mit einem eigentlich belan­glosen Werk an einem kleinen Haus an der nord­deutschen Küste, eine Bedeu­tung, wie sie zeit­gemäßer nicht sein kann.

In old­en days, a glimpse of stocking/Was looked on as some­thing shock­ing. (Cole Porter)

"Der ferne Klang"
’s ist mal bei mir so Sitte: Cha­cun à son goût! (Bild: Stef­fen Gottschling)

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