even say wunderbar

Postatomares Theater mit Mass & Fieber auf Kampnagel: Fall Out Girl

Der Strahlentod ist nah … (Bild: Mass & Fieber)
Der Strahlentod ist nah … (Bild: Mass & Fieber)

Es gibt diese beza­ubernde kleine Anek­dote, dass der jüdis­che Kan­tor Sholom Secun­da, als er mit sein­er Frau spaziereng­ing und diese über dieses und jenes und auch über ihr Ausse­hen klagte, er nur einen Satz zu sagen wußte: “Bay mir bis­tu sheyn”. Daraus wurde ein Lied und Pat­ty, Max­ine und LaV­erne Andrews san­gen es bis zu ihrem Lebensende.

Die ersten paar Rag­time-Tak­te sind ikonisch für das amerikanis­che Lebens­ge­fühl der dreißiger und vierziger Jahre, die Zeit, in der die alte Welt von Dik­ta­toren gebeutelt wurde und von der neuen gerettet wer­den sollte. Aus dieser Zeit stam­men auch die Über­helden der amerikanis­chsten aller Lit­er­atur­gat­tung, Comics. Cap­tain Amer­i­ca, Super­man, Bat­man – alles Ret­ter der Welt gegen Schurk­erei und Größen­wahn.

Und in der Regel ver­danken diese Wel­tenret­ter ihre über­men­schlichen Fähigkeit­en – der düstere Rit­ter Bat­man ausgenom­men – der Hoff­nung­stech­nolo­gie dieser Jahre, die schließlich auch das Kriegsende in ihrer über- und unmen­schlichen Gewalt markierte, der Ent­deck­ung der Kraft radioak­tiv­er Strahlung, ein Wort, das Marie Curie erst wenige Jahre zuvor kreiert hat­te.

Ganz und gar ohne Arg nahm man sich der neuen Energie an, dachte an saubere und immer­währende Kraft aus dem Nichts. Und fing an, Dinge zu nutzen, die strahlten. Daß eine Uhr im Dunkeln leucht­en kon­nte, ohne dass eine Lampe darauf schien, war wun­der­bar und so gab es bald Fab­riken, in denen Arbei­t­erin­nen mit feinen Pin­seln phos­pho­reszierende Farbe auf die Zif­ferblät­ter tupfte. Und wenn der Pin­sel mal stumpf wurde, feuchtete man die Spitze zwis­chen den Lip­pen an, wie jedes Kind es mit seinem Tuschekas­ten macht. Die Frauen star­ben. Sie nan­nten sie Radi­um Girls.

Und was wäre, wenn die plöt­zlich die Stimme der Amer­i­can Wartime Girls, der drei Schwest­ern Andrews bekä­men und dazu tanzten? Skur­ril? Vielle­icht ein bißchen, aber wir sind inmit­ten der neuen Pro­duk­tion der deutsch-schweiz­erischen The­aterensem­bles Mass & Fieber, insze­niert von Niklaus Hel­bling.

»Fall Out Girl« heißt sie und der Tanz der Radi­um Girls ist nur eine der unzäh­li­gen Num­mern dieser kleine Revue, die sich aus dem Fun­dus amerikanis­ch­er Kul­turindus­trie bedi­ent. Man muß sich schon ein bißchen ausken­nen oder hin­ter­her nach­schauen, um die tiefgestaffel­ten Ver­weise zwis­chen Comicwelt, Pop­kul­tur und His­to­rie in Gänze zu durch­schauen.

Fall Out Girl – der Begleit­er des Super­helden Radioac­tive Man, den es wiederum nur im Uni­ver­sum der Simp­son-Comics von Matt Groen­ing gibt, heißt Fall Out Boy – jenes Fall Out Girl also ist das Alias von Mary Jane Wat­son, der Fre­undin von Peter Park­er. Peter Park­er ist Spi­der­man. Alles klar?

Jene junge Dame, Anto­nia Labs heißt die Schaus­pielerin von Mass & Fieber, beg­ibt sich auf die Suche nach ihrem postapoka­lyp­tisch ver­schol­lenen Fre­und, an ihrer Seite der Musik­er und Comi­claden­verkäufer (noch ein Ver­weis auf die Simp­sons) Bartle­by – ja, man denke auch an Her­man Melvilles Zaud­er­er – der im prära­di­alen Zeital­ter der Schaus­piel­er und Musik­er Johannes Geißer ist.

Der macht nicht nur die Büh­nen­musik, son­dern hat das, was nicht im Amer­i­can Song­book der Nachkriegszeit ste­ht, zu großen Teilen selb­st geschrieben.

Wer hier nun wessen Side­kick ist, ist indif­fer­ent und auch uner­he­blich für den Fluss des Stück­es, das sich Revuenum­mer um Revuenum­mer nach vorne entwick­elt, stets darauf bedacht, keine Pose adoleszen­ten Pseu­dostar­getues zu umge­hen und dabei auch keine Facette eines popatomaren The­men­parks auszu­lassen scheint. Spi­der­mann ist Unternehmer ein­er merk­würdi­gen Indus­triefir­ma, deren Wer­be­jin­gles immer wieder mal einge­spielt wer­den, und die irgend­was mit Rüs­tung und Spin­nen­net­zen macht, es treten wahlweise und imag­inierte Fig­uren aus Comics und der Lit­er­aturgeschichte auf, Lewis Car­oll meets Marie Curie und so weit­er und so fort.

Die Gitar­ren baumeln stets von min­destens einem der Hälse der bei­den Darsteller herab, hier ein Dylan-Song, dort mal Love-Sto­ry-The­ma. Ab und an wird ein Orson-Welles-Gott video­graphisch einge­spielt, der Hand­lungsan­weisun­gen und Lebensweisheit­en von sich gibt. Irgend­wann ist man im Kyffhäuser, in dem nicht Bar­barossa, son­dern Don­ald Duck thront, “ent”-sorgt, wie er kalauert. Und über allem schwebt ein riesen­großer, aufge­blasen­er Pikachu – ja, ein Poké­mon, das elek­trische Blitze verteilt. Bäng!

Und das alles funk­tion­iert prächtig, es ist bunt, mal laut und mal leise. Die bei­den Darsteller lassen es an nichts fehlen, sin­gen und spie­len sich lustvoll die Seele aus dem Leib, kaum kommt man ein­mal zu Atem ob des furiosen Tem­pos, das im let­zten Drit­tel ein wenig nachzu­lassen scheint. Auf der Bühne sieht man übri­gens neben den Bei­den und aller­lei graph­ic-reduziertem zwei­di­men­sion­alem Req­ui­sitenkram nur ein einzelnes Ver­satzstück, einen Par­avent, der als Pro­jek­tions­fläche und für son­stige Prospek­tauf­gaben genutzt wird.

In einem Land, in dessen Baumärk­ten die Geigerzäh­ler aus­ge­hen, wenn auf der anderen Seite der Erde ein Atom­kraftwerk zer­stört wird, ist die Hal­tung, die dieses Stück zeigt, längst über­fäl­lig.

Denn was da so großar­tig gelingt, ist die Entk­lei­dung eines Dog­mas, das sich inzwis­chen – vor allem in Deutsch­land – zu ein­er allein moralis­chen Kat­e­gorie entwick­elt hat. Welche Hoff­nun­gen und Visio­nen in der noch immer unbekan­nten Macht Radioak­tiv­ität gese­hen wur­den und welche Vorstel­lun­gen und Pho­bi­en diese gener­ieren kann, all das ist ja auf der Bühne endlich in bei­den Rich­tun­gen zu ent­deck­en. Das ist wichtig, spek­takulär und vor allem unge­mein anre­gend für die the­ma­tis­che Auseinan­der­set­zung, ohne das große Manko der Vere­in­nah­mung durch dog­ma­tis­che Fun­da­men­tal­is­ten. Doch kein Glück ist per­fekt.

Was man sich aber vielle­icht noch wün­schte, bei all dem großen Vergnü­gen am Vir­tu­osen, am spielerischen Umgang mit den Topoi des Pop, mit den Visio­nen dieser imag­inierten Strahlen­welt, wäre eine weit­ere Sphäre, die über den Ges­tus der Zweitver­w­er­tung, über das Zitat hin­aus gehen kann. Das kann es nicht, dieses Stück. Das will es möglicher­weise auch nicht. Und das muß es auch nicht, denn es ist tat­säch­lich eine Revue. Was schw­er­er wiegt, mag jed­er für sich entschei­den.

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