Und du warst so ein süßes Kind

Rührend, aber nie rührselig, böse, aber nie zynisch: Alexander Paynes »Nebraska« ist eine bittersüße Hommage an die amerikanische Familie

Zug nach Nirgendwo: Woody Grant (Bruce Dern) auf dem Weg zur ersten Million (Bild: Paramount)

Zug nach Nirgendwo: Woody Grant (Bruce Dern) auf dem Weg zur ersten Million (Bild: Paramount)

Es gibt amerikanis­che Filme. Und es gibt Filme über Ameri­ka. Das klas­sis­che Hol­ly­wood-Kino (also: der amerikanis­che Film) braucht die USA lediglich als Büh­nen­bild, als Folie, um Geschicht­en zu erzählen, die möglichst inter­na­tion­al ver­standen wer­den. Span­nung, Lei­den­schaft, Ver­rat wirken darin schon deshalb eine Num­mer größer, weil im Hin­ter­grund das Empire State Build­ing ste­ht oder die Hochbahn von Chica­go rat­tert.

In den Fil­men über Ameri­ka ist das anders. Die gehen oft mit­ten hinein ins “Heart­land”, das Her­z­land der USA, und sie gehen dahin, wo’s wehtut. Zeigen auf die Wun­den eines kaput­ten Lan­des, aber auch auf seine Wider­sprüche: Wärme und Gier, Sozial­dar­win­is­mus und Sol­i­dar­ität.

Solche Geschicht­en erzeu­gen eine ganz andere Art von Span­nung, die oft beina­he schw­er­er auszuhal­ten ist als die Mate­ri­alschlacht­en des Action-Kinos. Obwohl sie sich bewusst klein machen, von sehr men­schlichen Fig­uren erzählen, die in Prov­inzstädten gegen das Überse­hen­wer­den kämpfen. Fall­stu­di­en der Fall­höhe zwis­chen Erfolg und Scheit­ern. Und die ist beson­ders groß in einem Land, in dem das Streben nach Glück sog­ar in der Ver­fas­sung ste­ht.

Der Meis­ter dieser Geschicht­en heißt Alexan­der Payne, und der Mann weiß, wovon er spricht. Seine melan­cholis­chen Komö­di­en spie­len immer in der amerikanis­chen Prov­inz – aber in seinem neuesten Werk spürt er den ver­lore­nen See­len nicht mehr in den idyl­lis­chen Wein­ber­gen Kali­forniens nach (“Side­ways“, 2004) oder sucht das Dra­ma im Klis­chee-Urlaub­sziel Hawaii (“The Descen­dants”, 2011). Son­dern wagt sich an seine eige­nen Wurzeln mit “Nebras­ka”, dem Staat, in dem der griechis­chstäm­mige Regis­seur in den 60er Jahren aufwuchs.

Und wo man nun wirk­lich nicht tot über dem Zaunpfahl hän­gen möchte. Die schnurg­er­aden Straßen durch end­lose Mais­felder, die herun­tergekommene Kneipe und der gar nicht mal so schöne Schön­heitssa­lon, die Kirche und das Club­heim der Pfadfind­er – zwis­chen diesen Polen ist hier das Leben aufges­pan­nt, so wie Payne es schildert und in elegis­chen, Edward-Hop­per-arti­gen Schwarzweiß-Bildern in Szene set­zt.

In diesem Staat lebt Woody Grant (Bruce Dern), ein altern­der Alko­ho­lik­er und ehe­ma­liger Auto­mechaniker, der sich eines Tages auf­machen will, um den mil­lio­nen­schw­eren Lot­to-Jack­pot in der Prov­inzhaupt­stadt Lin­coln abzukassieren. Der amerikanis­che Traum in Rein­form, Präsi­den­ten-Namen inklu­sive, mit einem winzi­gen Hak­en: Es gibt gar kein großes Los.

Son­dern nur ein Werbe-Massen­mail­ing mit ein­er Pseu­do-Gewinnbe­nachrich­ti­gung, auf der sein Name ste­ht. Alle wis­sen das, die zänkische Ehe­frau Kate (June Squibb), der ältere Sohn Ross (Bob Odenkirk), TV-Ansager beim Lokalfernse­hen, und der jün­gere Sohn David (Will Forte), der als Musikan­la­gen­verkäufer tapfer, aber chan­cen­los gegen die Inter­net-Konkur­renz antritt.

Doch der grum­melige Alte lässt sich seinen Plan nicht ausre­den: Begin­nende Demenz und jahrzehn­te­lange Saufer­ei haben ihn zu einem eben­so wortkar­gen wie beratungsre­sisten­ten Sturkopf gemacht. Nach­dem die Polizei Woody bei einem Fuß­marsch auf der Stand­spur der Auto­bahn aufhält, bietet sich der weich­herzige David als Chauf­feur an.

Schließlich hält ihn selb­st nicht viel in der Heimat­stadt: Die Fre­undin ger­ade aus­ge­zo­gen, der Job frus­tri­erend, und wer weiß, wie viel Zeit man noch gemein­sam ver­brin­gen kann, als Vater und Sohn. Als Woody gle­ich zu Beginn der Reise einen kleinen Unfall hat und in sein­er Geburtsstadt Hawthorne eine Pause ein­legt, stößt auch noch die Mut­ter dazu — ein schau­rig-schönes Wieder­se­hen mit der Ver­gan­gen­heit.

Erwartungs­gemäß wird aus dem Road Trip eine Reise mit Hin­dernissen, ins dun­kle Herz der Ver­gan­gen­heit. Allerd­ings ohne den Film-üblichen Mix aus aufgedeck­ten Geheimnis­sen und wieder­ent­deck­ten Sehn­sücht­en. Die Fig­uren behal­ten ihre Leer­stellen und damit auch ihre Res­o­nanz, ein möglich­es Kriegstrau­ma in der Ver­gan­gen­heit wird lediglich angedeutet.

Stattdessen ent­fal­tet Alexan­der Payne ein Panora­ma der ganz nor­malen, kleinen Lebenslü­gen voll grotesker Komik: eine alternde Mut­ter mit nie gestill­tem Leben­shunger, die per­ma­nent von den Verehrern ihrer Teenagerzeit faselt; ein altern­der Vater, der stumm und ängstlich nach seinen eige­nen Spuren sucht und nichts find­et. In sein­er ehe­ma­li­gen Werk­statt ken­nt kein­er mehr Woodys Namen, die Stammkneipe hat längst einen anderen Besitzer.

Erst als bekan­nt wird, dass der Alte Mil­lionär sein soll, set­zt die Erin­nerung schla­gar­tig wieder ein: Nun sind es nicht nur die eige­nen Brüder, son­dern auch frühere Zechkumpane und Geschäftspart­ner, die alle etwas von Woody wollen. Vor allem Geld, für ange­blich jahrzehn­tealte Schulden. Dass der Film als Road Movie begin­nt und dann über weite Streck­en an einem denkbar unat­trak­tiv­en Ort hän­gen bleibt, ist dabei vol­lkom­men stim­mig: Alle Beteiligten sind in ein­er Art rasenden Still­stand gefan­gen, die Jun­gen wie die Alten.

Davids schw­er übergewichtige Cousins hän­gen wie ges­tran­dete Wale in der Sofaecke fest, reden aber pausen­los von Auto­mod­ellen, Streck­en­reko­r­den und Geschwindigkeit, Davids Onkel sitzt seit Jahren auf dem gle­ichen Plas­tik­stuhl an ein­er unbelebten Straße und wartet auf Verkehr.

Auch für Davids Gegen­wart scheint sich hier kein­er mehr zu inter­essieren, ganz zu schweigen von sein­er Zukun­ft: “Du warst so ein hüb­sches Baby!”, schleud­ern die altern­den Ver­wandten ihm mit unter­schwelligem Tadel ent­ge­gen – ganz, als habe er ihre großen Erwartun­gen ent­täuscht. All das ist lakonisch und voller Under­state­ment gespielt, mit wortkar­gen Dialo­gen und sprechen­den Mienen, und bis in die kle­in­ste Neben­rolle bril­lant beset­zt.

Dass der Film trotz allem düsteren Real­is­mus eine große Wärme und sog­ar etwas wie Zuver­sicht entwick­elt, liegt einzig und allein daran, dass gegen Ende eben doch noch etwas in Bewe­gung kommt. Weil Woody in einem sein­er lichteren Momente seine wahren Wün­sche an das Leben geste­ht. Wün­sche, so beschei­den wie erfüll­bar. Weil David auf anrührende Weise die Würde seines Vaters wahrt, auch wenn es dafür ein­er kleinen Flunk­erei bedarf.

Von der wun­der­baren Schluss­pointe sei nur eine Winzigkeit ver­rat­en: In den let­zten Film­szenen trägt Woody eine alberne Base­cap mit dem Auf­druck “Prize Win­ner”. Völ­lig zurecht. Denn das große Los lässt sich nicht immer in Dol­lar und Cent bez­if­fern.

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