Die Ruhe auf der Flucht

Von materieller Stärkung zur spirituellen Erbauung. Eine Bildmeditation zum Weihnachtsfest

 

Die süss­es­ten Früchte (Bild: danielmitsui.com)

Auf dem Marien­al­tar, den Absa­lon Stumme 1499 für den Ham­burg­er Marien­dom malte (er hängt heute im Warschauer National­mu­se­um) wid­met sich ein Bild dem The­ma Die Ruhe auf der Flucht. Maria sitzt in ihrem goldbe­stick­ten blauen Man­tel auf dem still­ste­hen­den Esel mit dem Jesuskind, während Joseph aus einem sich neigen­den Dat­tel-Baum kleine Dat­tel­früchte – oder sind es Kirschen? – in seinen großen roten Hut sam­melt.

Dabei helfen ihm zwei Engel. Das Motiv “Die Ruhe auf der Flucht” ste­ht so nicht in der Bibel. Das Motiv ist erschlossen aus der knapp skizzierten Geschichte von der Flucht der Heili­gen Fam­i­lie nach Ägypten, die im Matthäus-Evan­geli­um berichtet wird. Leg­en­darisch aus­geweit­et wurde dies Motiv  in den soge­nan­nten Kind­heit­se­van­gelien, die erst im 2. und 3. Jahrhun­dert ent­standen. Sie bericht­en von der Kinder- und Jugendzeit Mariens und von der Kind­heit Jesu. Jesus ist hier auch als Kind schon der göt­tliche Hei­land, der Wun­der tun kann. In dem Evan­geli­um des soge­nan­nten Pseu­do-Matthäus aus dem 7. Jahrhun­dert wird nun erzählt, wie die Heilige Fam­i­lie auf der Flucht nach Ägypten in der Wüste nahe am Ver­dursten ist.

Da sieht Maria einen Palm­baum, in dessen Schat­ten sie sich aus­ruhen  will. Als sie sich niederge­lassen hat, schaut sie zur Kro­ne der Palme hin­auf und sieht sie voller Früchte. Sie bit­tet Joseph, ihr die Früchte zu pflück­en. Der wen­det ein, sie hin­gen viel zu hoch. Da sagt das Jesuskind, das mit fröh­lich­er Miene auf dem Schoß sein­er Mut­ter sitzt, zu der Palme: “Neige dich, Baum, und erfrische meine Mut­ter mit deinen Frücht­en.

Und auf diesen Ruf hin neigt die Palme ihre Kro­ne sogle­ich bis zu den Füßen Marias, und man sam­melt von ihr Früchte, an denen sich alle gütlich tun. Die Palme wartet geneigt, bis Jesus ihr sagt, sie könne  sich wieder aufricht­en. Dann befiehlt er ihr, ihre Wurzeln zu öff­nen, unter denen eine Wasser­ad­er  in der Erde ver­bor­gen ist.

Flüchtlinge brauchen materielle Hil­fe zum Über­leben, wenn keine Men­schen da sind, durch ein Wun­der! Oder durch das “Wun­der” der über­raschend bre­it gestreuten Hil­fe für die Lampe­dusa-Flüchtlinge durch viele Ham­burg­er in der St. Pauli-Kirche.

In dem heili­gen Buch der Mus­lime, dem Koran, in der 19. Sure, der Marien-Sure, die von der Geburt Jesu berichtet, wird nun eine ähn­liche Geschichte erzählt. Die schwan­gere Maria hat sich wegen der Vor­würfe aus ihrer Ver­wandtschaft an einen  fer­nen Ort zurück­ge­zo­gen. Die Wehen set­zen ein, sie ist verzweifelt und ruft: “Wäre ich doch vorher gestor­ben und ganz in Vergessen­heit ger­at­en.

Da hört sie die Stimme ihres Sohnes: “Sei nicht trau­rig. Der Herr hat unter dir ein Rinnsal voll Wass­er gemacht. Und schüt­tle den Stamm der Palme, indem du ihn an dich ziehst. Dann lässt sie saftige frische Dat­teln auf dich herun­ter­fall­en. Und iss und trink und sei fro­hen Mutes”.

Der ger­ade geborene Jesus ret­tet seine Mut­ter. Die Palme leis­tet gewis­ser­maßen Geburtshil­fe, indem sie die gebärende Maria stärkt. Welch eine schöne Gemein­samkeit zwis­chen Islam und Chris­ten­tum! Hat der Autor des Koran  diese Leg­ende aus dem Pseu­do-Matthäus gekan­nt?

Die Kind­heit­sle­gen­den Mariens und Jesu wur­den viel erzählt in den Gemein­den des Vorderen Ori­ents, offen­sichtlich  auch dort, wo Mohammed lebte. Es war aber eher  umgekehrt. Der christliche Ver­fass­er des Pseu­do-Matthäus muss die 19. Sure des Korans gekan­nt haben, denn zeitlich liegt dieser apokryphe Text später als der Koran.

Im heili­gen Buch der Moslems ist der kleine Jesus, der “Sohn Marias” wird er häu­fig genan­nt, der Ret­ter und Rit­ter sein­er Mut­ter. Dass er schon als Säugling sprechen kann, ist ein Sprech­wun­der, das Gott bewirkt hat. Gegen die Vor­würfe der Ver­wandten Marias kon­tert er: “Ich bin der Knecht Gottes. Er gab mir das  Buch und machte mich zum Propheten.”

Die Geschichte von den Dat­tel­frücht­en, die also eigentlich aus dem Koran stammt, wurde aufgenom­men in die berühmte Leg­en­da Aurea, die Leg­en­den­samm­lung  des Bischofs Jakob von Voraigne. Von dort gelangten sie mit den bib­lis­chen Geschicht­en von Maria und Jesus in die Armen­bibel, das heißt, sie wur­den als Zyklen gemalt, weil das ein­fache Volk nicht lesen kon­nte.

Diese Leg­en­den wur­den ab dem 14. Jahrhun­dert von der Renais­sance-Malerei der Ital­iener und Nieder­län­der aufge­grif­f­en. Giot­to malt die Flucht nach Ägypten 1305 in seinem berühmten Zyk­lus in der Are­na-Kapelle in Pad­ua. Deutsche Maler wie Albrecht Alt­dor­fer und Lucas Cranach d. Ä. stell­ten das Motiv dar.

Eine späte roman­tis­che Ver­sion dieser Leg­ende  hängt in der Ham­burg­er Kun­sthalle, Philip Otto Runges Gemälde “Die Ruhe auf der Flucht”. Man sieht Joseph, ein älter­er Mann in Handw­erk­er­tra­cht mit schon gelichtetem Haar; mit einem Stock schlägt er die Glut des Feuers aus. Hin­ter ihm das in den Dis­teln äsende Reit­ti­er der Fam­i­lie, ein Esel.

Auf der andern Seite  eine in sich gekehrte Maria bere­its im vollen Licht der aufge­hen­den Sonne. Ihre run­den Wan­gen leucht­en. Sie betra­chtet anbe­tend das Jesuskind, das in der Mitte des Bildes auf ihrem blauen Umhang liegt. Stram­pel­nd begrüßt es mit bei­den  Hän­den das Licht. Es ist in der Nack­theit der Geburtsstunde dargestellt.

Und über Mut­ter und Kind statt der Dat­tel­palme ein Tulpen­baum mit großen weißen Blüten, ein Sinnbild der Natur und zugle­ich ein Paradieses­baum. Im Blät­ter­dach schlägt ein der Sonne zuge­wandter Engel die Harfe. Ein ander­er Engel hat sich im verzweigen­den Geäst niederge­lassen, scheint aus dem Baum her­auszuwach­sen und trägt in den Hän­den eine Lilie.

Und immer wieder geht die Sonne auf (Bild: Wikimedia Commons)
Und immer wieder geht die Sonne auf (Bild: Wiki­me­dia Com­mons)

Die rein­ste Glück­seligkeit strömt dieser Tulpen­baum aus mit dem Kind darunter. Das Ganze spielt sich ab vor ein­er ide­al­isierten ägyp­tis­chen Land­schaft. Der Him­mel tagt san­ft­blau im Mor­gen­licht. Runge hat das materielle Motiv, Stärkung mit den Frücht­en des Baums, in ein spir­ituelles ver­wan­delt. Alles sagt: Ex ori­ente lux, aus dem Osten kommt das Licht, das Licht der Sonne und der Erlö­sung. Ein Bild, das so Recht zum Son­ntag Epipha­nias, dem Fest der Erschei­n­ung Christi am 6. Jan­u­ar passt.

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