“Hör auf zu beben!”

Der belgische Star-Choreograf Alain Platel widmet sein aktuelles Projekt »Nicht schlafen« dem Komponisten und Visionär Gustav Mahler.

Alain Platel
Ringen mit dem Ende. Bild: Chris van der Burght

Gus­tav Mahler betra­chtet die Welt zur Jahrhun­der­twende als sinnlos­es Wirrwarr, das dem Unter­gang gewei­ht ist. In sein­er Musik geht es um die Tragödie der Men­schheit, Krieg, Wahnsinn und Tod. Mahler behält Recht mit sein­er Vorah­nung, der er in seinen Kom­po­si­tio­nen immer wieder Aus­druck ver­lei­ht: Der erste Weltkrieg bricht aus. Pla­tel übern­immt die düstere Vision in sein­er Chore­o­gra­phie, die im Sep­tem­ber auf der Ruhrtri­en­nale ihre Urauf­führung feierte und jet­zt auf Kamp­nagel zu sehen ist: Musik (Kom­po­si­tion: Steven Pren­gels), Büh­nen­bild (Berlinde De Bruy­ckere) und Chore­ografie sind eine Anspielung auf Mahlers Vorah­nung: den Unter­gang der Men­schheit.

Bere­its zu Beginn seines Stücks demon­stri­ert Pla­tel Bru­tal­ität und Zer­störung mit einem erschreck­enden Büh­nen­bild: In Mitte der Bühne liegen drei prä­pari­erte Pfer­deka­dav­er. Um sie herum warten neun Tänz­er. Im Hin­ter­grund sind Her­den­glock­en und Klänge eines Xylophons zu vernehmen, Mahlers sech­ste Sin­fonie. Die Her­den­glock­en sym­bol­isieren in Mahlers Werk einen Zus­tand des völ­li­gen Allein­seins. Allein und ruhig wirken auch die Tänz­er. Jed­er ignori­ert den anderen, in völ­liger Stille mit sich selb­st. Bis sie in einen Chor ein­stim­men. Der wiederkehrende Satz “Hör auf, zu beben!” aus Mahlers Aufer­ste­hungss­in­fonie lässt ahnen, dass die Stille unter den Tänz­ern trügt.

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Dem Unter­gang gewei­ht. (Bild: © Chris van der Burght)

Dann ergreift die Bühne ein Mix aus klas­sis­chem Bal­lett, Break­dance und Con­tem­po­rary. Die einzel­nen Tänz­er bewe­gen sich wirr, zunächst ohne sich zu berühren, bis ein­er den anderen angreift. Ein heftiger Kampf entspin­nt sich. Die Tänz­er reißen sich die Klei­der vom Leib, schreien, zer­ren aneinan­der, spuck­en sich an, ziehen sich gegen­seit­ig zu Boden. Auf Angriff fol­gt Gege­nan­griff. Jed­er gegen jeden, sinn­los. Der Hass ist gren­zen­los, die Bösar­tigkeit beängsti­gend. Das aggres­sive und bru­tale Schaus­piel geht unter die Haut.

Es ertönt ein Andante, der Ruhep­unkt in Mahlers Sin­fonien. Ruhig, aber wach­sam betra­cht­en die Tänz­er, was sie angerichtet haben. Wie in Trance räu­men sie die Klei­der­fet­zen auf und begin­nen in syn­chro­nen Bewe­gun­gen über die Bühne zu gleit­en. Ihr Zusam­men­spiel wirkt auf eine über­raschende Art har­monisch.

Ein Marschrhyth­mus, eben­falls ein wiederkehren­des Stilele­ment in Mahlers Werken, erklingt. Wie Sol­dat­en paradieren die Tänz­er im Gle­ich­schritt auf der Bühne. Dann mis­chen sich afrikanis­che Rhyth­men unter Mahlers Sin­fonie. Die Tänz­er, mit Ras­seln bestückt, tanzen jet­zt zu dem afrikanis­chen Gesang der bei­den kon­gole­sis­chen Sänger Boule Mpa­nya und Rus­sell Tshie­ba, ein Aus­druck großer Lebens­freude – bis ihr Kampf erneut begin­nt.

Die Tänz­er sind hin- und herg­eris­sen zwis­chen Kampf und Har­monie, zwis­chen Rast­losigkeit und Stille, zwis­chen Hass und Liebe. Sie rin­gen miteinan­der, aber auch mit sich selb­st, mit dem eige­nen Kör­p­er. Sie zuck­en, fast schon epilep­tisch. Erneut entste­ht ein Wech­sel aus Wut, Schmerz und Wahn. Ein Tänz­er wird the­atralisch hin­gerichtet. In seinen let­zten Atem mis­cht sich aus dem Hin­ter­grund Vogel­gezwitsch­er und das Schnauben von Säugetieren, ein Abschieds­gruß leben­der Wesen. Wieder kehrt Stille ein, Schock­starre, das böse Erwachen. Doch wie im Geis­teswahn set­zen die Tänz­er ihre Per­ver­sion fort. Sie verge­hen sich an der Leiche, skalpieren sie, kop­ulieren mit den Pfer­deka­dav­ern, koitieren mit einan­der, rülpsen. Der Men­sch mit all seinen Wider­lichkeit­en, ekel­haft, abstoßend und obszön.

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Das Dasein als Kampf. (Bild: © Chris van der Burght)

Pla­tels Inter­pre­ta­tion der Mahler’schen Werke kön­nte das aktuelle Zeit­geschehen nicht bess­er wieder­spiegeln. Zur Jahrhun­der­twende wie auch heute ist das Zeit­geschehen geprägt von Uni­lat­er­al­ität und Krisen, von Nation­al­is­mus und Zusam­men­bruch. Eine Welt, wie sie einst auch Mahler begeg­nete.

Pla­tel gelingt es, Mahlers musikalis­che Ele­mente der Verzwei­flung, der Tragik und der uner­füll­ten Sehn­sucht nach Ruhe und Frieden in eine Chore­ografie ein­fließen zu lassen, die zugle­ich ver­stört und begeis­tert.

An eini­gen Stellen möchte man ein­fach nur wegse­hen und ignori­eren, was da auf der Bühne geschieht. Und dann wird man doch wieder in das Stück hineinge­zo­gen durch die her­aus­ra­gende tänz­erische und darstel­lerische Leis­tung von Pla­tels Com­pag­nie “les bal­lets C de la B”.

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