Bene.Diktum: Prekariat als Dauerzustand

Gast-Kolumnist Hans-Jürgen Benedict über die Passionsgestalten des neuen Arbeitsmarktes

Hans-Jür­gen Bene­dict (Illus­tra­tion: San­dra Lajain)

Reli­gion und soziale Fra­gen sind als grusel­ndes Dekor in Talk­shows präsent, anson­sten aber aus dem täglichen Diskurs gewichen. “Haupt­sache nicht wir” und “der Papst ist von Gestern, mit all den pädophilen Priestern und den Kon­domen” – das ist medi­aler Tenor, und das natür­lich mit Recht, schließlich geht es um den Erhalt der bürg­er­lichen Werte und das tägliche Einkauf­ser­leb­nis. Das wollen wir nicht so ste­hen lassen.

Deswe­gen bekommt das HAMBURGER FEUILLETON Zuwachs: In los­er Folge wird der Sozialthe­ologe Hans-Jür­gen Bene­dict an dieser Stelle unter dem Titel “Bene.Diktum” seine Reflek­tio­nen zu Gesellschaft­s­the­men veröf­fentlichen. Bene­dict, geboren 1941 in Ham­burg, ist ein­er der engagiertesten Beobachter sozialer The­men in der evan­ge­lis­chen Kirche. Er war bis 2006 Pro­fes­sor an der Evan­ge­lis­chen Hochschule für Soziale Arbeit und Diakonie in Ham­burg und pub­liziert inzwis­chen zu The­men zwis­chen Glauben, Sozialem und Lit­er­atur. Wir freuen uns, ihn als Autor gewon­nen zu haben.

Hier also unsere neue Reli­gions- und Gesellschaft­skolumne “Bene.Diktum”:

Im Ham­burg­er Insti­tut für Sozial­forschung stellte die Sozi­olo­gin Natal­ie Grimm  in einem inter­es­san­ten Vor­trag erste Ergeb­nisse ein­er Langzeit-Unter­suchung zum soge­nan­nten Prekari­at vor. Die Studie ist Teil des Koop­er­a­tionspro­jek­tes “Gesellschaftliche Teil­habe im Span­nungs­feld von Langzeitar­beit­slosigkeit, Erwerb­sin­te­gra­tion und öffentlich gefördert­er Beschäf­ti­gung” und wird vom Insti­tut für Arbeits­markt- und Berufs­forschung (IAB) drittmit­tel­fi­nanziert und geleit­et.

In dieser Unter­suchung wurde über einen Zeitraum von fast 5 Jahren die Unter­suchungs­gruppe von 152 Teil­nehmern immer wieder nach ihrem Schick­sal auf dem Arbeits­markt befragt. Wie ist es ihnen ergan­gen zwis­chen 2001 und 2011? “Prekari­at im Dauerzu­s­tand. Erwerb­s­bi­ogra­phien in der Zwis­chen­zone der Arbeitswelt”, so der Titel des Vor­trags.

Die Ergeb­nisse dieser empirischen Unter­suchung sind alarmierend. Es war zwar  bekan­nt, dass die Dereg­ulierun­gen auf dem Arbeits­markt infolge Hartz I und II also, Lei­har­beit, Zeitar­beit, Mini­jobs und Auf­s­tock­er­jobs in dieser Zeit drama­tisch zugenom­men haben. Aber immer war damit noch die Hoff­nung ver­bun­den, dass es sich um vorüberge­hende Phasen ein­er Erwerb­s­bi­ogra­phie han­delt und die davon Betrof­fe­nen wieder in feste Arbeitsver­hält­nisse gelan­gen. Dem ist aber nicht so.

Nach der Imple­men­tierung der Hartz IV-Geset­ze 2005  hat  sich eine Zwis­chen­zone der Prekar­ität gebildet und sta­bil­isiert, aus der die Men­schen, die in diese Zone ger­at­en, nur schw­er wieder her­auskom­men. Ungewis­sheit wird zur entschei­den­den Exis­ten­z­er­fahrung der Befragten. Die Beschäf­ti­gungsphasen erscheinen als Ruhep­ausen ein­er insta­bilen Erwerb­s­bi­ogra­phie, oder wie ein Befragter es aus­drück­te: “Jet­zt kann ich mich ein bißchen beruhi­gen.”  War früher die Arbeitspause ein ersehntes Ziel, so ist die unsichere Arbeit jet­zt eine kurze Ruhep­ause, die auf die näch­ste Arbeit­slosigkeit und den Hil­febezug vor­bere­it­et – eine zynis­che Umkehrung. Man ist zwar auf dem Arbeits­markt, aber man gehört nicht mehr fest dazu.

Die prekär Beschäftigten haben es schw­er, sich sozial­struk­turell einzuord­nen. Gefragt zu wem sie gehören, ist “untere Mit­telschicht”  die eher zöger­liche Antwort. Gle­ichzeit­ig gren­zt man sich gegen die mit­tel- und langfristig Arbeit­slosen ab. Zu denen will man nicht gehören. Mit der Prekar­ität ist die Qual­ität und Sta­bil­ität gesellschaftlich­er Teil­habe deut­lich gesunken, die kul­turellen Möglichkeit­en sind eingeschränkt. Das Leben wird wieder zu einem Über­leben­skampf auf höherem Niveau. Der prekär beschäftigte ist der Zusage, fast möchte ich sagen der Gnade, dem Geschenk eines fes­ten Arbeit­splatzes nicht mehr gewär­tig. Er bleibt im Zus­tand der Ungewißheit und des ständi­gen Kampfes um Jobs und Arbeits­gele­gen­heit­en. Selb­st die Ein-Euro-Jobs sind jet­zt von Kürzun­gen bedro­ht.

Zu den gravieren­den Fol­gen dieser Entwick­lung gehört auch die Erschei­n­ung, die Robert Cas­tel “neg­a­tive Indi­vid­u­al­isierung” genan­nt hat: die Konzen­tra­tion auf sich selb­st über­lagert den Blick auf die anderen. So wie man von der Gesellschaft nur begren­zte Sol­i­dar­ität erfährt,in Gestalt gerin­ger­er Ent­loh­nung, mager­er  Trans­fer­leis­tun­gen und not­dürftige Auf­s­tock­ung, so zwingt der Über­leben­skampf auf dem Arbeits­markt zur Abgren­zung und Innen­schau. Die ständi­ge Unsicher­heit, wie lange dauert mein Lei­har­beitsver­hält­nis, wann bekomme ich endlich einen fes­ten Arbeit­splatz, wie komme ich aus dem Hil­febezug her­aus, zer­mürbt.

Man kön­nte sagen – diese neue Gruppe der unsicheren Erwerb­stäti­gen ist der Preis für die Senkung der Arbeit­slosen­z­if­fern, die  Poli­tik und Wirtschaft für ihre öffentliche Legit­i­ma­tion so nötig brauchen. Der aktivierende Staat will Erfolge vorzeigen, und die erringt er auf dem Rück­en ein­er Teils der Erwerb­spop­u­la­tion. Nicht Poli­tik und Wirtschaft sind bere­it einen Preis dafür zu zahlen, son­dern sie zwin­gen einem Teil der Erwerb­stäti­gen dieses Schick­sal auf.

Sie müssen das Opfer für die Gesamt­ge­sellschaft erbrin­gen, das den Poli­tik­ern die Ver­ringerung der Arbeit­slosen­zahlen und der Mehrheit der Erwerb­s­bevölkerung einiger­maßen sichere Arbeit­splätze bringt. Nach ein­er  Zeit der Vollbeschäf­ti­gung und nach ein­er Phase sehr hoher Masse­nar­beit­slosigkeit jet­zt also eine ange­blich erträgliche Masse­nar­beit­slosigkeit. Man kön­nte auch sagen: die nach wie vor beste­hende Masse­nar­beit­slosigkeit wird ein wenig geschönt durch prekäre Beschäf­ti­gung als Dauerzu­s­tand.

Mich als The­olo­gen erin­nert diese fun­da­men­tale Verun­sicherung der Erwerb­s­bi­ogra­phie an die Heil­sungewißheit der frühen Neuzeit. Wie bekomme ich einen gnädi­gen Gott? Die Frage, die Luther umtrieb und für die er mit der Recht­fer­ti­gung aus Gnade allein eine Lösung fand , wollte der Gen­fer Refor­ma­tor Calvin  anders als Luther nicht endgültig beant­worten. Heil­sun­sicher­heit blieb auf­grund der Ungewis­sheit der Erwäh­lung erhal­ten, das war die Lehre von der Prädes­ti­na­tion, ein­er Erwäh­lung also, der sich der Gläu­bige nie endgültig sich­er sein kon­nte.

Max Weber hat in seinem berühmten Text “Die Protes­tantis­che Ethik und der Geist des Kap­i­tal­is­mus” dargelegt, dass der kap­i­tal­is­tis­che Geist durch diese protes­tantis­che inner­weltliche Askese angetrieben und zu rast­losem Gewinnstreben motiviert wurde. Nach der Ver­flüch­ti­gung des Antrieb­s­geistes bleibt ein­er­seits zurück das “stahlharte Gehäuse” des mod­er­nen Arbeit­slebens, ander­er­seits die hybride Entwick­lung zum Finanzkap­i­tal­is­mus. Die fun­da­men­tale Verun­sicherung auf dem Arbeits­markt aber hält Mil­lio­nen von Erwerb­stäti­gen in ihren Fän­gen, zer­mürbt sie, macht sie oft krank und depres­siv.

Sie kön­nen nicht mehr ruhig sein, ohne Angst leben, sich auf etwas bedin­gungs­los ver­lassen. Sie müssen Zumu­tun­gen hin­nehmen, sich mühen, kämpfen, Schick­salss­chläge ertra­gen, ohne noch die seel­is­chen Ressourcen dafür zu haben. Früher kon­nten eine bes­timmte Schichtzuge­hörigkeit, die Klassen­lage oder die kollek­tiv-soziale Ein­bindung in Gesel­lun­gen religiös­er oder sozialer Art das teil­weise kom­pen­sieren. Heute ist jed­er auf sich allein gestellt. Insofern find­et das momen­tan vield­isku­tierte Burnout  in dieser neuen Prekari­atss­chicht ständig statt.

Wie sagt Hölder­lin im Schick­sal­slied:

“Doch uns ist gegeben
auf kein­er Stätte zu ruhn
es schwinden, es fall­en
die lei­den­den Men­schen
Blin­d­lings von ein­er Stunde zur andern
wie Wass­er von Klippe
zu Klippe gewor­fen
jahrlang ins Ungewisse hinab.”

Das ist das Schick­sal der prekär Beschäftigten. Das sind die kleinen Pas­sion­s­geschicht­en der postin­dus­triellen Mod­erne. Ein­er Kirche, die von der Recht­fer­ti­gung des sündi­gen Men­schen redet, kann dieser Zus­tand nicht gle­ichgültig sein. Die the­ol­o­gis­che Kat­e­gorie der Recht­fer­ti­gung müsste heute sozial­philosophisch als Anerken­nung neu aus­gelegt wer­den. Wo das Men­schen­recht auf Anerken­nung im Mark­t­geschehen ver­let­zt wird, muss man von ein­er gesellschaftlichen Fehlen­twick­lung sprechen. Der Markt ver­spricht etwas, was er nicht hal­ten kann oder will. Wie ist Anerken­nung heute im Arbeit­sleben sozial umzuset­zen? Min­destlöhne, Ein­gren­zung des Lei­har­beitssek­tors und der Zeitar­beit, bess­er ent­lohnte  Arbeit­splätze statt Auf­s­tock­ung, Auf­bau eines zweit­en Arbeits­mark­tes wären erste Schritte, um der Prekar­ität als Dauerzu­s­tand bzw. der fun­da­men­tal­en Heil­sungewißheit auf dem Arbeits­markt wenig­stens anfangsweise zu begeg­nen.

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