In den Schuhen seines Vaters

Von der Völkerschlacht zum Familienkrieg: In seinem epischen Film »Die Quellen des Lebens« zeigt Oskar Roehler Gewalt und Liebe als zwei Seiten einer Medaille

Kindheitsmuster (Bild: © X-Verleih)
Kind­heitsmuster (Bild: © X‑Verleih)

West-Berlin, Mitte der 60er Jahre. Ein klein­er Junge ste­ht auf ein­er nacht­dun­klen Straße, das Kopf­steinpflaster glänzt im Licht der Lat­er­nen. Seine Beine steck­en in einem zu kurzen Frot­teeschlafanzug, seine Füße in den viel zu großen Schuhen seines Vaters. Unbeir­rt geht er auf den Grenzbeamten am näch­sten Check­point zu, denn er weiß genau, was er will. Nach West­deutsch­land, nach Hause, zu Oma und Opa. Not­falls zu Fuß. Haupt­sache, weg von seinem gren­zen­los über­forderten Vater, der entwed­er ket­ten­rauchend über einem Romanan­fang brütet oder lit­er­arische Fräulein­wun­der auf dem Sofa der riesi­gen Alt­bau­woh­nung flach­legt. Und der für seinen Sohn Robert immer nur den gle­ichen, stereo­typen Rat auf Lager hat: “Geh ins Bett und trink deine Milch!” Der Fluchtver­such scheit­ert kläglich in ein­er DDR-Arrestzelle, später nimmt das zweite Großel­tern­paar das unwillkommene Kind tat­säch­lich mit, aber das ist nicht das Ende des Films, und hap­py ist es schon gle­ich gar nicht. Mauern, wohin man auch blickt.

Der Autoren­filmer Oskar Roehler weiß, wovon er spricht. Schließlich ist er das Alter Ego des kleinen Berlin-Flüchtlings, Sohn des Lek­tors Klaus Roehler und der Schrift­stel­lerin Gisela Elsner. Und wie schon in früheren Werken (“Die Unberührbare”, “Agnes und seine Brüder”) benutzt Roehler seine eigene, abgrundtief düstere Fam­i­liengeschichte als Stein­bruch. Nur, dass ihm sein Stoff dies­mal nicht zur Freak­show ent­gleit­et. Und das ist gut. “Die Quellen des Lebens” (nach Roehlers auto­bi­ographis­chem Roman mit dem ähn­lich gewalti­gen Titel “Herkun­ft”) ist ein mon­u­men­taler, düster­er, sinnlich­er Film über jene Gefüh­le, die in Fam­i­lien weit­ergegeben wer­den, so sub­til wie sub­ku­tan. Die Erfahrung, nicht willkom­men zu sein und ver­lassen zu wer­den, die Sehn­sucht, um sich selb­st willen geliebt zu wer­den. Dabei ist der Film so dicht dran an seinen Fig­uren, dass es oft schmerzt und manch­mal ekelt: Kör­per­flüs­sigkeit­en, extreme Nahauf­nah­men, Roehler ver­schont den Zuschauer nicht. Dafür schenkt er ihm eine Nähe zu den Per­so­n­en, die son­st nur zwis­chen realen Men­schen in den intim­sten Momenten entste­ht.

Diese ganz beson­dere Tonart wird schon in den allerersten Szenen spür­bar: Der durch­fall­ge­plagter Kriegsheimkehrer Erich Frey­tag (Jür­gen Vogel), räudig und star­rend vor Schmutz, find­et endlich die Sied­lung, in der seine Fam­i­lie lebt. Nur um festzustellen, dass seine Frau Elis­a­beth (Meret Beck­er) mit­tler­weile ein Liebesver­hält­nis mit sein­er Schwest­er Marie (Son­ja Kirch­berg­er) hat. “Papi stinkt”, so der einzige Kom­men­tar der Kinder. Frey­tag ist bei­des: die geknechtete Krea­tur, das Opfer. Und der Täter, der in Rus­s­land Juden ins Gas geschickt hat. Von ein­er Park­bank aus belagert er die Fam­i­lie, der älteste Sohn Klaus wech­selt als Unter­händler zwis­chen den Fron­ten hin und her – die Fort­set­zung des Krieges mit anderen Mit­teln. Auch später bleibt Frey­tag ein zutief­st vom Krieg geprägter Mann. Ein alter Nazi, der später als Garten­zw­erg­pro­duzent zu Wohl­stand kommt und bei Betrieb­s­festen sein “Prosit der Gemütlichkeit!” in einem schnei­di­gen Kaser­nen­hofton her­aus­bellt. Näch­ster Akt des Fam­i­lien­dra­mas: Klaus (Moritz Bleib­treu), mehr an Prosa und nack­ten Brüsten inter­essiert als an den väter­lichen Zwer­gen­zipfelmützen, tut sich mit dem neu­ro­tis­chen Fab­rikan­ten­töchterchen Gisela (Lavinia Wil­son) zusam­men. Beim ersten Sex brechen die Garten­zw­erge über dem jun­gen Paar zusam­men, bald schon kippt die Lust in rohe Gewalt und die Liebe erstickt im All­t­ag. Zwis­chen der top­mod­er­nen Siemens-Waschmas­chine und der pastell­far­be­nen Couch, wider­willig spendiert von Gise­las Fab­rikan­tenel­tern (Thomas Heinze und Mar­gari­ta Broich). Auch hier wieder wer­den Opfer zu Tätern, Täter zu Opfern, und dem Zuschauer wird beina­he schwindlig auf der Achter­bahn der Empathie, die ihn mal in die eine, mal in die andere Rich­tung schleud­ert.

Und wieder gerät ein Kind zwis­chen die Fron­ten: Sohn Robert. Schon in der Schwanger­schaft ver­sucht Mut­ter Gisela ihn loszuw­er­den, wird schließlich von ihrer eige­nen Mut­ter aus­gelacht, als sie ein einziges Mal so etwas zeigt wie müt­ter­liche Gefüh­le und ihren 9‑Monats-Bauch vor der aggres­siv­en Umar­mung schützt (“Ach, der Bauch, der Bauch – hast du eine Ahnung, wie robust Kinder sind!”) Nun: Diesem Kind bleibt auch nichts anderes übrig, will es nicht jäm­mer­lich zugrunde gehen.

Für all diese Dra­men lässt der Film sich Zeit, und das zu recht. Denn was hat er nicht aller zu erzählen und zu zeigen: See­len­land­schaften, Gesicht­s­land­schaften, deutsche Land­schaften. Die Lieblichkeit des fränkischen Mit­tel­ge­birges, die mon­u­men­tale Größe Alt-Berlin­er Alt­bau­woh­nun­gen, die Schäbigkeit von Nachkriegs-Neubaut­en. Natür­lich ist der Film auch eine Ausstat­tung­sorgie, eine allerd­ings, bei der alles stimmt: der hässlich-kleinkari­erte Bet­tbezug im Stu­den­ten­heimz­im­mer, die Schlauch­milch im Plas­tik­stän­der, das biedere Ober­stu­di­en­rats-Out­fit der Gruppe-47-Autoren, schließlich der 70er-Jahre-Kas­set­ten­reko­rder mit nicht arretier­barem Rück­spul­knopf. Jedes Jahrzehnt hat seine eigene Beleuch­tung, seine eigene Farb­welt, und wenn die Fig­uren älter wer­den, feiern große Schaus­pielkun­st (allen voran: Jür­gen Vogel und Moritz Bleib­treu) und Masken­bild­nerei gemein­sam ein Fest. Offen­sichtlich ist Cast­ing heute nicht mehr an biol­o­gis­ches Alter gebun­den: Wüsste man es nicht bess­er, man käme nicht auf die Idee, dass Vater Erich und Sohn Klaus im wirk­lichen Leben ger­ade mal drei Jahre auseinan­der sind.

Wie Roehlers Alter Ego Robert schließlich die Heimat­losigkeit über­lebt, die Odysee zwis­chen seinen liebe­sun­fähi­gen Eltern (die Mut­ter ver­lässt Mann und Sohn, als er drei Jahre alt ist) und den ungle­ichen Großel­tern­paaren, erzählt der dritte Teil des Films. Manch­mal kla­maukig, manch­mal hys­ter­isch, manch­mal beden­klich nahe an Teenag­er-Schmonzetten, irgend­wo zwis­chen “Eis am Stiel” und “La Boum – die Fete”. Aber: Endlich kommt so etwas wie Hoff­nung auf. Da wird die erste, unschuldige Liebe zu einem Nach­barsmäd­chen beschworen – beze­ich­nen­der­weise in ein­er Szene, in der sich die bei­den die blüten­weißen Klei­der mit Schlamm aus einem Wald­bäch­lein beschmieren, unter­malt von der Hip­pie-Hymne “Dust in the wind.” Gle­ichzeit­ig schlägt der Film auch noch einen uner­warteten Bogen und erzählt die zutief­st anrührende Liebesgeschichte eines alten Paares, von dem man immer glaubte, dass es lediglich aus Pflicht­ge­fühl zusam­men ges­tanden hat. Dass der Wert ein­er Beziehung sich erst nach so langer Zeit und unter drama­tis­chen Umstän­den zeigt – das kann Roehler min­destens so gut zeigen wie sein Kol­lege Michael Haneke (“Liebe”).

Natür­lich ist das alles kein Hol­ly­wood-Hap­py-End, und es gibt auch hier kein wirk­lich­es Ankom­men, kein Willkom­men­sein. In der let­zten Szene ste­hen Robert (Leonard Sche­ich­er) und seine Fre­undin Lau­ra (Lisa Smit) auf einem Hotel­balkon und schauen auf die ver­lasse­nen Strände der Adria. Kein­er mehr da, außer den eige­nen Kind­heit­serin­nerun­gen. Ende der 70er jet­tete man eben schon eher mit dem Char­ter­flieger nach Mal­lor­ca, als sich im Opel Kapitän über den Bren­ner zu quälen. Aber immer­hin scheint die Sonne, immer­hin berühren sich die blonden Härchen an ihren Armen, und das ist für diesen Moment schon eine ganze Menge. Prompt gab es Kri­tik an Oskar Roehler, er habe seine kom­pro­miss­lose Bösar­tigkeit einge­büßt. Als wär’s nicht ein Zeichen der Reife, den Mon­stern der Fam­i­lie und der Geschichte etwas ent­ge­gen zu set­zen, und sei es nur der Ver­such, zu ver­ste­hen. Hineinzuschlüpfen in die Schuhe der eige­nen Eltern und Großel­tern und ein paar Schritte mit ihnen zu gehen. Roehler passen diese Schuhe jeden­falls wie angegossen.

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