Kultur und Spiritualität

Der Hamburger Musiker Michy Reincke über die Musik, die Industrie und über Spiritualität – ein Interview

Michy Reincke
»Manchmal schaue ich dabei zu, wie die Zukunft jeden Tag neu erfunden wird … (Foto: kms/hhf)

Michy Reincke, ein­er der rührig­sten Pop-Musik­er und Musikpro­duzen­ten in Ham­burg, hat ein neues Album veröf­fentlich. Schaut man auf das Cov­er von “Sie haben den Falschen” [ama­zon Part­ner­link], sieht man den Kün­stler mit tief ins Gesicht gezo­gen­em Cow­boy­hut, vor vertrock­netem Bäu­men und in typ­is­ch­er West­ern­pose. Wir trafen ihn im entsprechen­den Ambi­ente, im Ham­burg­er Muse­um für Völk­erkunde, inmit­ten indi­an­is­ch­er Tip­is, amerikanis­ch­er Straßenkreuzer und bestick­ter Led­ergewän­der. Ein län­geres Gespräch mit einem Mann, der sich offen­bar Gedanken macht über die Welt und über seine Musik.

Pop, Camp, Radiomusik

HHF: Michy Reincke, du machst “deutschsprachige Pop­musik für Erwach­sene”, so in etwa ste­ht es in den Pres­se­tex­ten für dein neues Album. Was ist dein Begriff von Pop, was bedeutet es, dass du Pop-Musik machst?

Michy Reincke: Da ist, ehrlich gesagt, gar nicht meine Schublade. Das ist das, was all­ge­mein wahrschein­lich für viele Arten von zeit­genös­sis­ch­er Musik gilt, das sie eben pop­ulär sind. Und die einen sind, wenn man nach der englis­chen Wort­de­f­i­n­i­tion sieht, beliebter als andere und andere halt etwas weniger pop­ulär. Ich tu mich prinzip­iell schw­er mit Schubladen, aber es ist so, dass ich großen Wert auf meine inhaltliche Arbeit lege.

Als ich anf­ing, mich für pop­uläre Musik zu inter­essieren, war es nichts ungewöhn­lich­es, dass die Inhalte einen großen Stel­len­wert hat­ten. In den 60er und 70er Jahren hat­ten vor allem die Texte eine sehr große Rel­e­vanz in der soge­nan­nten pop­ulären Musik, das haben sie heutzu­tage in diesem Maße nicht mehr. Es ist halt überdeut­lich, dass in den Medi­en – in den pri­vatwirtschaftlichen Medi­en sowieso, da ist das  für mich auch keine große Über­raschung – dass es dort auf Musik zurück­ge­grif­f­en wird, die eher schlichtere Inhalte hat, die im besten Fall der Pose dient und des Reklamev­erkaufs.

Beim soge­nan­nten öffentlich-rechtlichen Medi­um Radio/Fernsehen, das ja prinzip­iell gemein­schaft­seigen ist, mache ich mir dazu schon mehr Gedanken, was dahin­ter ste­ht, dass man da etwas inhaltsin­ter­es­san­tere Pop­musik zu unter­bre­it­en nicht wirk­lich bere­it ist. Es geht in erster Lin­ie auch bei den gemein­schaft­seige­nen For­mat­en, wo Wer­bung verkauft wird, um die gle­iche Pro­gram­matik wie bei den pri­vatwirtschaftlichen Anbi­etern. Auch auf diesen Wellen geht es um eine Quoten­be­friedi­gung, die für mich nicht mehr nachvol­lziehbar ist.

HHF: Schauen wir in der pop­ulären Musik tat­säch­lich auf die Inhalte oder auch auf die Triebfed­er dessen, was wir als Pop beze­ich­nen? Es gibt ein Zitat von der Camp-Queen Kylie Minogue, sie hat gesagt, die Triebkraft des Pop sei Eskapis­mus, also etwas, was den Schein her­stellt. Es geht nicht um Lösun­gen dabei. Kannst du das nachvol­lziehen und auch mit dem Begriff Eskapis­mus etwas anfan­gen?

Michy Reincke: Abso­lut. Prinzip­iell kann ich auch mit dem Begriff Eskapis­mus in der Kul­tur was anfan­gen. Das ist aber nur eine Sichtweise und eine Art zu denken. Ich glaube, dass pop­uläre Musik ein ver­stärk­tes Augen­merk auf Unter­hal­tung und Pose legt, sowieso. Aber, so wie ich Pop­musik ken­nen­gel­ernt habe, hat sie auch immer einen inhaltlichen Nutzen gehabt. Einen Nutzen, wie ich Kul­tur seit der Aufk­lärung ver­standen weiß, näm­lich, dass es einen geisti­gen, einen seel­is­chen und für mich auch darüber hin­aus einen spir­ituellen Nutzen gibt, der in einem Kunst­werk vorhan­den ist.

Nun ist nicht jede Form von pop­ulär­er Musik ein Kunst­werk, aber in den meis­ten Fällen wird es von Kün­stlern hergestellt. Und wenn jet­zt jemand behauptet, Bob Dylan ist jemand, der sich sehr mit der inhaltlichen Seite der pop­ulären Musik auseinan­derge­set­zt und da sehr viel bewegt hat, dann ist das sich­er so. Da ist dann aber auch nicht jed­er Song eine poli­tis­che Auseinan­der­set­zung oder eine Kri­tik an der Gesellschaft, son­dern da geht es auch manch­mal um Sachen, wie »kannst du nähen, kannst du kochen«.

HHF: Das Zitat von Kylie Minogue geht übri­gens noch weit­er, sie sagt, die Kun­st beste­he darin, diese Illu­sio­nen, die erzeugt wer­den, in Wahrheit zu verza­ubern. Darin steckt eine Art Genius­be­griff, das heißt, die Leute wer­den durch den Kün­stler im Moment gepackt. Das Momen­tum ist ver­mut­lich auch ein wesentlich­er Bestandteil dessen, im Gegen­satz zu soge­nan­nter ern­ster Musik?

Michy Reincke: Men­schen haben sich einst in Höhlen zusam­menge­fun­den und auf Knochen­flöten gespielt. Andere haben irgendwelche Bisons an die Decke gemalt. Sie haben ein Feuer gemacht, wahrschein­lich getanzt und haben ein Rit­u­al für sich gemacht. Let­z­tendlich ist Kul­tur ein Spiegel in dem das Wesen Men­sch sich erken­nen kann und wo er sich kor­re­spondierend mit diesem Rit­u­al in der Welt verortet, definiert, dif­feren­ziert.

Väter und Vorbilder: Dylan, Bowie, Prince

HHF: Bob Dylan, ist das ein Über­vater, ein großes Vor­bild, ene Grun­didee, die in deinem Werk eine Rolle spielt?

Michy Reincke: Als ich anf­ing, mich mit Dylan zu beschäfti­gen war ich irgend­was zwis­chen 12 und 13, und der Ini­ti­a­tion­ssong war (lacht) »Blowin in the Wind«, der ganz bes­timmt nicht zu den stärk­sten Dylan-Songs zählt. Aber ich fand das halt mit meinen Möglichkeit­en als 13/14-Jähriger – ein Song aus Fra­gen, wie ist das denn, wohin fliegt denn die Kanonenkugel und so (lacht) – eine inter­es­sante Form der Auseinan­der­set­zung. Das regte mich an, ein­mal regte mich der coole Typ an. Ich würde gar nicht sagen, dass es ein Vater ist, son­dern die Ziehmut­ter, das ist für mich meine Amme, meine erste Begeg­nung mit pop­ulär­er Kul­tur.

HHF: Ist das heute noch so? Bist du ein »Dylan­head« und gehst auf Konz­erte?

Michy Reincke: Ich bin aus­gestiegen nach einem Konz­ert, da war ich 18, das war das erste Dylan-Konz­ert in der Dort­munder West­falen-Halle. Es gab ein Album, das hieß »Street Legal«, das war das Album vor »Slow Train Com­ing« und da hat er sich sehr mit sein­er spir­ituellen Herkun­ft und mit dem Chris­ten­tum beschäftigt, da bin ich als 18-jähriger aus­gestiegen.

Er ver­ab­schiedete sich beim Konz­ert, wir riefen »Zugabe, Zugabe« und ich ver­bran­nte mir an einem Ein­wegfeuerzeug meinen recht­en Dau­men. Dylan kam auf die Bühne und ver­ab­schiedete sich in alle Rich­tun­gen mit dem Hit­ler­gruß. Das ist halt jüdis­ch­er Humor in den späten 70er Jahren gewe­sen (lacht). Er wurde von dem Impre­sario Fritz Rau dann dazu ver­don­nert, im Jahr darauf auf dem Reichsparteitags­gelände in Nürn­berg aufzutreten, weil er das getan hat­te. Ich weiß nicht, ob er bek­ifft oder son­st irgend­wie drauf war, aber ich emp­fand das als wirk­lich glühen­den Lieb­haber sein­er Musik als Ohrfeige.

HHF: Man hört auf dem aktuellen Album eine große Stil­vielfalt, es gibt dieses kleine Prince-Zitat, ist das ein Spiel mit einzel­nen Stilen oder ist das eine Auseinan­der­set­zung mit den jew­eili­gen Vor­bildern?

Michy Reincke: Pop­uläre Musik ist natür­lich im weitesten Sinne eine ständi­ge Auseinan­der­set­zung mit dem, was schon da ist. Ich glaube, der Satz stammt von Paul McCart­ney, aus den 60ern: »Wir schreiben alle an einem großen Song«. Das kann man ja auch über die Musik­er­schaft hin­ausse­hen, dass die ganze Men­schheit an einem großen Lied mitschreibt und dass sie auch eigentlich bes­timmt, in was für ein­er Gesellschafts­form und mit welchen Hal­tun­gen sie leben will.

Meine großen Vor­bilder, die Men­schen, die mich inter­essiert haben und mit denen ich mich viel beschäftigt habe, sind tat­säch­lich Dylan, Bowie und Prince. Das sind Sachen, die mir sehr nah sind. Trotz­dem bevorzuge ich eine Art des for­malen Aus­drucks, so wie er mir begeg­net. Das ist eine sehr ein­fache Form von Rück­ung in den meis­ten Fällen, der ich ver­suche etwas abzugewin­nen, da bin ich eher dylanesk. Ich wan­dere for­mal nicht durch die Tonarten, das ist dann eher sel­ten.

Dann gibt es trotz­dem so Sachen, auf dem neuen Album gibt es ein Lied »Hin­ter meinen Augen scheint die Sonne«. Das sind zwei Har­monien, das ist sehr »princesk«. Da ver­sucht man wirk­lich den Beat laufen zu lassen und ein paar Bilder zu erzeu­gen und Lin­ien zu kreieren. Das Lied beste­ht aus zwei Har­monien, und darüber baut sich halt was auf.

Ist es eine Hom­mage, ist es ein Zitat? Mir gefällt das in dem Moment. Das hat ja viel damit zu tun, was mir Freude bere­it­et. Ich gehe nicht durch ein Muse­um und klebe Zahlen von 1–10, Hit­pa­raden­plätze verteilend, an die Bilder, son­dern ich lasse den gesamten Besuch auf mich wirken. So ist es auch der Besuch in der pop­ulären Musik, ich guck mir an, was gefällt mir, oder was haben andere da gemacht. Dann denke ich, das gefällt mir, das würde ich gern mal aus­pro­bieren, nur auf ein­er oder zwei Har­monien ein Lied zu schreiben.

Geschichten

HHF: Das hat dur­chaus was Spielerisches in sein­er Kom­bi­na­tion von Ele­menten. Kön­ntest du dir auch vorstellen,  in anderen Gen­res, mit freieren For­men, etwas zu machen, z. B. mit den Leuten aus der sehr umtriebi­gen Ham­burg­er Jaz­zszene? Du hast mit den Box­horns, die auf deinem Album spie­len, da ja schon ein Sig­nal geset­zt, Mat Clasen ist ein guter Jaz­zsax­o­phon­ist.  Kann das noch weit­erge­hen?

Michy Reincke: Natür­lich kön­nte das weit­erge­hen. Eine kün­st­lerische Entwick­lung, wie ich sie auch für mich ver­ste­he, hat natür­lich immer etwas mit der Entwick­lung der Form zu tun. Die Tat­sache, die man sich bei so ein­er Frage bewusst machen muss: Ich betreib das nicht als Hob­by oder bin Pri­vati­er oder der Sohn reich­er Eltern, son­dern das ist mein Beruf. Ich muss es irgend­wie hin­bekom­men, dass mir eine bes­timmte Anzahl von Men­schen soweit fol­gt, dass ich davon leben kann. Son­st kann ich mir die doll­sten Sachen aus­denken, sie sind für mich dann nicht her­stell­bar.

Daher ist also mein Haup­tau­gen­merk, wie ich Geschicht­en erzäh­le. Da ist das aktuelle Album, das Abschluss ein­er Trilo­gie ist, wo ich Geschicht­en erzählt habe, wie sie son­st, in der deutschsprachi­gen Pop­musik sehr sel­ten in dieser Qual­ität erzählt wer­den.

HHF: Würdest du da eher eine Nähe zum Chan­son sehen, wo dem »Sto­ry­telling« eine wichtige Bedeu­tung zukommt?

Michy Reincke: Es wer­den ja Geschicht­en erzählt. Die Rolle des Geschicht­en­erzäh­lers, desjeni­gen, der am Lager­feuer sitzt und seine Geschicht­en erzählt, ist schon meine. Da ist es einiger­maßen Wurst, ob der mit dem Musette-Akko­rdeon, mit ein­er elek­trischen Gitarre oder mit einem vor sich hin wabern­den Syn­the­siz­er seine Geschicht­en erzählt. Wenn man es hin­bekommt, eine Klien­tel an Men­schen um sich zu ver­sam­meln, die diesen Geschicht­en zuhören, dann ist das von Vorteil, wenn man das als Beruf betra­chtet.

Ich bin sich­er ein Fre­und von Jacques Brel, ich hab mich zwei Jahre lang mit Edith Piaf beschäftigt und auch mit der Musik ihrer Lieb­haber, das sind mir alles Begriffe. Im deutschen ist das dann Klaus Hoff­mann, der das eher macht. Ich seh mich eher in der erwach­se­nen deutschsprachi­gen Pop­musik zuhause. Ich glaube, ich bin eine echte Alter­na­tive zu den soge­nan­nten Epigo­nen (lacht) der deutschsprachi­gen Pop­musik, die auch alle ihre Berech­ti­gungskarte abgestem­pelt haben.

Ich denke allerd­ings, dass es in Deutsch­land diese große Ver­wech­selung gibt, wie man Qual­ität definieren kann. Und da es seit 1993 auch im öffentlich-rechtlichen Radiosys­tem das soge­nan­nte »for­matierte« Radio gibt, sieht es eher düster aus. Qual­ität wird da auss­chließlich über Quan­titäten definiert und über Pop­u­lar­itäten. Das ist, wie wir alle wis­sen, manip­ulier­bar. Der Geschmack und eine Mode unter­liegt immer der äußeren Manip­u­la­tion. Da ich unab­hängig arbeite, und ein kleines unab­hängiges Label habe, ist das für uns immer schwierig, sich da Gehör zu ver­schaf­fen. Wir sind dankbar für jede Form der Unter­stützung. Es ist halt »erwach­sene« Pop­musik.

Kulturindustrie

HHF: Du förder­st viele junge Kün­stler, Anna Depen­busch, Mia Diekow und viele andere, was ja doch noch ein biss­chen an das Chan­son­the­ma anschließt, Anna Depen­busch, die ja auch mit exzel­len­ten Tex­ten arbeit­et und ja auch ihren Weg gemacht hat. Gibt es da Ver­wandtschaften? Gibt es Rück­kop­pelungsef­fek­te?

Michy Reincke: Ver­wandtschaften gibt es ganz bes­timmt. Wir haben ja mit sowohl mit der Lauschlounge als auch mit dem Label Rintintin ver­sucht, das Ange­bot zu erweit­ern. Das ist in der Form, wie es eigentlich wün­schenswert gewe­sen wäre für eine funk­tion­ierende kul­turelle Gemein­schaft, nicht passiert und auch abge­blockt wor­den ist. Da klingt jet­zt so ein biss­chen nach Bit­ter­nis und da ist auch eine gehörige Por­tion Wut dabei.

Es ist ja meine freien Beruf­swahl gewe­sen, das ist alles, wofür ich brenne und wofür ich mich engagiere, das ist meine freie Entschei­dung. Wir haben 2005 mit Anna Depen­busch ein Riese­nal­bum mit »Ins Gesicht« veröf­fentlicht. Wir haben sehr große Schwierigkeit­en gehabt, das an die Leute zu brin­gen. Let­z­tendlich hat ja auch die Zeit gezeigt, dass es  unheim­lich viele Men­schen gab, die sich dann auch für das erste Album inter­essiert haben. Ich habe fünf Jahre beim den öffentlich-rechtlichen Rund­funkanstal­ten gewor­ben für diese großar­tige Kün­st­lerin, und es blieben wirk­lich alle Türen ver­schlossen.

Es ist tat­säch­lich so, in dem Moment, wo sie bei der Indus­trie veröf­fentlicht, gehen all diese Türen auf. Es ist dann ein großer Erfolg und für mich auch abso­lut ver­ständlich und gegön­nt und mit Freuden emp­fun­den, nachvol­lziehbar vergön­nt gewe­sen. Aber für uns, als diejeni­gen, die das unter­stützen, über fünf Jahre, das sind die Gelder, die ich auf meinen Konz­erten ver­di­ent habe, die ich in diese Pro­duk­tion gesteckt habe und mich dann mit diesen merk­würdi­gen For­men des öffentlich-rechtlichen Sys­tems auseinan­derzuset­zen, das hat mich, gelinde gesagt, frus­tri­ert.

HHF: Woran mag das gele­gen haben?

Michy Reincke: Das ist ein Punkt, glaube ich, dass die Men­schen im Kopf nicht frei sind. Das andere ist tat­säch­lich, dass sich die meis­ten in den entschei­den­den Posi­tio­nen darauf fest­gelegt haben, wenn das keine Quan­tität hat, dann kann das auch nichts sein. Das ist ja jet­zt nicht so, dass alle alter­na­tiv­en und unab­hängi­gen Labels Krach­musik mit verz­er­rten Gitar­ren machen, wo man die Haus­frauen nicht erschreck­en darf, son­dern es gibt sehr wohl sehr viele Anbi­eter die halt auch main­streamige Musik machen.

Mir wurde z. B. noch 1996 wortwörtlich gesagt: »Michy, du kennst doch unser For­mat, das kann doch für dich nicht so schwierig sein, etwas in der Art herzustellen«. Wenn man dann “Musik­di­en­stleis­ter” ist, dann ist man bei solchen Herrschaften gut aufge­hoben, wenn man das nicht möchte, hat man eben keine Chance.

HHF: Ist das heute noch so?

Michy Reincke: Das ist heute mehr denn je so.

HHF: Wird das aktuelle Album denn gespielt?

Michy Reincke: Nein.

Formate

HHF: Das heißt auch, dass »for­matier­bare« deutschsprachige Sänger eher durchgeschoben wer­den als solche, die nicht ganz dem for­matierten Sound entsprechen?

Michy Reincke: Das hat, glaube ich, nichts mit dem for­matierten Sound zu tun, ich glaube, dass meine Lieder wenig­stens die for­male Klasse eines Oerd­ing-Songs auch hal­ten kön­nen. Es geht darum, dass das Indus­trie ist und die Indus­trie drückt und die Indus­trie macht sich bre­it.

Es ist so, man kommt sich beim Hören dieser Sender wahlweise so vor, als sollte man jemand sein, der auf einem 80er Jahre Märchen­film hän­genge­blieben ist oder jemand, der 13 oder 14 Jahre ist, dann gibt es dann Joris und Mark Forster und so weit­er, das sind junge Musik­er, die bei der Indus­trie sind. Da soll auch alles sein und ich möchte das auch nicht despek­tier­lich behan­deln, das ist Musik für junge Leute.

Ich glaube nur nicht daran, dass eine Gesellschaft, die sich seit mit­tler­weile zwei Jahrzehn­ten kul­turell selb­st für diese for­matierten Radiosendun­gen des gemein­schaft­seige­nen Sendesys­tems so degener­iert, dass die in der Lage ist, gesellschaftliche Ver­w­er­fun­gen in irgend ein­er Weise auszuhal­ten und sich da zu ori­en­tieren. Wenn man ein­er Gesellschaft sagt, dass kul­turelle Non­plusul­tra, was wir euch anzu­bi­eten haben, ist in diesen Verkauf­s­lis­ten enthal­ten. Das »Beste von Heute« wird nach Verkauf­s­lis­ten ermit­telt.

Als ich 13, 14 war, hab ich Hit­pa­rade super gefun­den, das hab ich mit­geschnit­ten auf dem Tapere­corder. Mit 15, 16, 17 kommst du zu anderen Ergeb­nis­sen, was dir gefällt und was du für gute Musik hältst. Das ist nicht so, dass Hit­pa­rade kom­plett aus­ge­blendet ist, aber es hat niemals mehr in meinem weit­eren Leben eine wirk­liche Rel­e­vanz gehabt. Wenn eine Gesellschaft sich also dazu auf­fordert, nach Hit­pa­raden zu funk­tion­ieren, dann hat sie für mich in ihrer sozialen Kom­pe­tenz und in ihrer geisti­gen Tragfähigkeit auch nur das For­mat eines 13-jähri­gen.

HHF: Das geht ja ein­her mit der Sehn­sucht nach Rank­ings, die 10 besten Tipps usw. Wenn wir gesellschaftlich weit­er denken, ist diese Sehn­sucht nach Teilen der Verord­nung nicht immer auch eine Form von Angstäußerung, ein­er Sehn­sucht nach Sicher­heit?

Michy Reincke: Abso­lut. Hil­flosigkeit, der Traum nach ver­meintlich­er Sicher­heit.

Amerika und die Heimat

HHF: Da kann man auch die Schleife zur Musik ziehen, die das ja auch bieten kann. Ist die West­ernäs­thetik im Art­work gewollt? Man sieht dich als Cow­boy, den »Lone­some Rid­er«, diese Assozi­a­tions­bilder ziehen sich durch, ein Teil des amerikanis­chen Traums ist damit ver­bun­den, Begriffe wie Frei­heit, Indi­vid­u­al­ität spie­len da eine Rolle. Inwieweit ist das das The­ma des Albums?

Michy Reincke: Das ist nicht beab­sichtigt, es ist ger­ade kon­trär. Die Worte Frei­heit und Indi­vid­u­al­ität habe ich, glaube ich, in mein­er ganzen Tex­tar­beit noch nie benutzt. Ich sprech schon mal von »frei sein« oder von »frei«. Diese Idee, wie sie der amerikanis­che Traum vor­gaukelt, da kann ich über­haupt nichts mit anfan­gen.

Die gestal­ter­ische Umset­zung dieses Albums, wie auch der Alben davor, die wie gesagt diese Trilo­gie bilden, zeich­net sich erst­mal dadurch aus, dass es auf der Vorder­seite der Cov­er wed­er einen Namen noch einen Titel gibt. Das ist eine Ver­weigerung, sich zur Marke zu stil­isieren.

HHF: Ich glaube, das wiederzuerken­nen, wenn du sagst, solche Begriffe tauchen nicht auf. Aber wenn man sich so etwas anhört wie das titel­gebende Stück »Du hier so«, das fängt tat­säch­lich mit etwas Kap­i­tal­is­muskri­tik an – For­mulierun­gen wie »Matrix des Mark­tes« kom­men da vor. Das ist sich­er ein Gegen­mod­ell zu diesem ger­ade wieder aktuellen “Great America”-Gedanken – aber es gibt dur­chaus eine Vision von Fremdbes­timmtheit darin, die ja auch in anderen Tex­ten wieder auf­taucht.

Michy Reincke: Das ist es. Da gebe ich abso­lut Recht. Das Sich-falsch-Fühlen in der eige­nen Exis­tenz, sich als Fremder zu fühlen, da, wo man eigentlich zu Hause sein und seine Heimat haben sollte. Das ist mir in mein­er Leben­szeit, und ich weiß nicht, ob ich da aufmerk­samer bin als andere, oder ob mir ein­fach nur andere Sachen passiert sind als anderen Men­schen, aber diesen Begriff von »hier bin ich zu Hause, das ist meine Heimat und das sind die Men­schen, für die ich kämpfe und ein­trete«, das hat sich wirk­lich immer mehr verklein­ert.

Ich empfinde mich mit Beginn meines Lebens, pubertär und auch in mein­er jugendlichen Entwick­lung  bis Ende 20, über­haupt nicht als Außen­seit­er. Mit­tler­weile sehe ich mich schon als Außen­seit­er, der entwed­er auf dem Ufo sitzt, sich kniend vor ein­er abwärts führen­den Treppe von hin­ten ablicht­en lässt oder eben mit dem tief ins Gesicht gezo­ge­nen Hut, als ein Cow­boy-Außen­seit­er. Da ist das schon so.

Es hat für mich weniger mit einem Aspekt von Frei­heit und Indi­vid­u­al­ität zu tun, son­dern es ist die tat­säch­liche Unab­hängigkeit in den Gedanken. Ich möchte mich nicht mehr vergiften und manip­ulieren lassen durch die Gedanken, die mich durch ein medi­ales Sys­tem in erster Lin­ie zu einem Kon­sumenten bzw. zu ein­er poli­tis­chen Mar­i­onette degradieren. Da halte ich dage­gen.

HHF: Also ein ganz frei­heitlich­er, lib­eraler Gedanke – beim Begriff Heimat, den du eben ver­wen­det hast, was ist die per­sön­liche Heimat für dich?

Michy Reincke: Das ist das engere Umfeld, das ist die Liebe, die ich zu den Men­schen empfinde, mit denen ich mich gerne verabrede, die ich gerne sehe. Das ist Heimat. Ich bin aufgewach­sen bei mein­er Groß­mut­ter in Ahrens­burg, 20 km nordöstlich von Ham­burg, mein Vater ist zur See gefahren, meine Mut­ter hat beim Zah­narzt in Ham­burg gear­beit­et, die habe ich nur am Woch­enende gese­hen. Da wo meine Groß­mut­ter gelebt hat, den Ort gibt es noch, aber der sieht nicht mehr so aus. Das war am Ende ein­er Sack­gasse, da war ein ganz­er Birken­hain, da ste­hen jet­zt irgendwelche Häuser. Es ist schw­er zurück­zukom­men in diesen Teil der Heimat.

Ich hab ver­sucht, das zu beschreiben in einem Lied auf dem Album, »Die Frau, in der die Welt ver­schwand«. Es ist so, dass man zu unter­schiedlichen Zeit­en in seinem Leben mit Men­schen, mit denen man eng zusam­men ist, mit seinen Fre­un­den oder mit den Lieb­sten, mit denen man sich umgibt, ganz bes­timmte Rit­uale hat, bes­timmte Wege gemein­sam geht, sich zum Bowlen verabre­det oder sich fre­itags immer dann und dann in der Kneipe trifft oder immer gern in »das« Restau­rant essen geht.

Aber wenn diese Men­schen nicht mehr da sind, oder wenn sie sich aus dem eige­nen Leben ver­ab­schieden, ob es Fre­unde sind oder ob es die Frauen sind oder die Lebenspart­ner, dann ver­schwindet mit diesen Men­schen tat­säch­lich auch all das. Man geht dann nochmal Jahre später in dieses eine Restau­rant, da arbeit­en dann aber auch nicht mehr diesel­ben Leute, es ist anders. Es ist so, als würde man denken, Men­sch, diese Math­e­matikar­beit würde ich gerne noch mal schreiben, jet­zt weiß ich, wie es geht (lacht), man kommt in die Schule, und die Leute sind nicht mehr da, um die es sich eigentlich dreht. Von daher ist für mich Heimat niemals ein Ort, son­dern es ist das eigene Bewusst­sein.

HHF: Zwis­chen den Tex­ten im CD-Bei­heft gibt es eine ganze Rei­he eingek­link­ter Zitate. Eines davon, auf ein­er Dop­pel­seite zum Song »Noah«, ist ein Pes­soa-Zitat, da geht es um die Destruk­tiv­ität der men­schlichen Zivil­i­sa­tion, das klingt nach ein­er gewis­sen Resig­niertheit. Die zivil­isatorische Gesellschaft ist etwas, das eher zer­störerisch ist, eine destruk­tive Kraft – ist es das, woraus das Werk schöpft?

Michy Reincke: (kurze Gedanken­pause) Ich glaube, es ist unstrit­tig, wenn man sich auf das ganze dünne Eis der Begrif­flichkeit­en beg­ibt, dass es Gut und Böse gibt, so schlicht das in irgendwelchen Reli­gion­sphiloso­phien dargestellt sein mag, es gibt Gut und es gibt Böse. Die größten Ungerechtigkeit­en der Welt wer­den nicht von Säbelzah­ntigern oder von großen Bären am Men­schen verübt, son­dern von anderen Men­schen.

Das heißt, es gibt eine große Ungerechtigkeit, die meis­tens von Angst und Gier von Wesen ver­anstal­tet wird, die auf irgen­deine Weise glauben, sich das erlauben zu kön­nen. Das ist das, was die Destruk­tiv­ität in dieser Gesellschaft ist, das ist sie, seit der Men­sch sesshaft ist. Ich weiß nicht, ob das noch gilt, aber ich glaube mal gele­sen zu haben, dass, bevor der Men­sch sesshaft wurde, waren es eigentlich Matri­ar­chate im men­schlichen Zusam­men­leben, die sehr gut funk­tion­ierten.

Diese ganzen destruk­tiv­en Kräfte erscheinen erst, wo diese ganzen Jäger und Samm­ler sesshaft wer­den und Wertschöp­fung betreiben, mit Getrei­dean­bau und Viehzucht und es dann eine andere Gruppe gibt, die diese Men­schen bejagt und ihnen das weg­n­immt.

Kunst und Menschlichkeit

HHF: Ist die Kun­st die Ret­tung daraus? Also doch Eskapis­mus?

Michy Reincke: Die Welt, in der ich mich wohlfüh­le, ist die Welt von Kün­stlern, die ihre Kun­st nicht als Pose betra­cht­en. Auch von Reli­gion­ss­tiftern, die das nicht im ihrer selb­st willen getan haben, son­dern die ver­sucht haben zu wer­ben für das, was im Men­schen auch angelegt ist: Diese große Sol­i­dar­ität, so eine Barmherzigkeit, seine Möglichkeit, sich selb­st bewusst zu wer­den.

Sich darüber auszu­tauschen, was den Men­schen zum Men­schen macht und was ihn daran hin­dert, zum Men­schen zu wer­den. Dass er nicht zu seinem Wolf wird, wie es der englis­che Philosoph Thomas Hobbes gesagt hat. Das taucht bei den Römern zuerst auf, »memen­to mori«, das ist die Hybris der Imper­a­toren und der Men­schen, die das damals dominiert haben. »Erin­nere dich daran, dass du jet­zt ger­ade dabei bist und dass du ster­ben wirst«

Du kommst nicht davon, du kannst Men­schen unter­drück­en, du kannst sie aus­bluten lassen, du kannst Geld zählen, du kannst Leute ver­arschen, aber du wirst ster­ben. Was bedeutet es dann für dich? Was bedeutet es dann in dem Moment, wo dein let­zter Ein­druck ist, zu sagen, ich war der beste darin, Men­schen zu ver­arschen? Der griechis­che Held ist der, der beson­ders gut Men­schen ermor­den und Ungerechtigkeit­en bege­hen kann, diese Idee und Inter­pre­ta­tion von Erfolg ist bis heute gültig.

HHF: Aber der Held lei­det auch darunter, da ist ja in der griechis­chen Tragödie genau das, was deut­lich gemacht wer­den soll. Medea frisst ihre eige­nen Kinder, alle sind sie “gewor­fen” und entsprechend geze­ich­net. Würdest du sagen, du bist im weitesten Sinne religiös?

Michy Reincke: Das glaube ich nicht, aber ich glaube, wie ich bere­its angedeutet habe, dass wir vor 20, 30, 40.000 Jahren gemein­sam am Lager­feuer gehockt haben, vielle­icht gab es schon Sprache, jemand hat was erzählt und wenn nicht, gab´s irgendwelche Rit­uale. Man hat irgend­was gemacht mit den Knochen von Tieren, hat irgend­was gebaut und gebastelt und an die Wände gemalt. Vielle­icht ist das auch Schule, etwas, um den Kindern zu sagen, wenn der Win­ter vor­bei ist: Dann jagen wir diese Tiere und wir machen das fol­gen­der­maßen, die bewe­gen sich so und das sind unsere Speere, keine Ahnung.

Kul­tur ist für mich abso­lut unen­twirrbar verknüpft mit Spir­i­tu­al­ität. Ich bin jet­zt kein Fan eines “Vere­ins” wie der Kirche und ich bin auch nicht überzeugt davon (lacht). Aber es gibt bei Dos­to­jew­s­ki, in den Brüdern Kara­ma­sow, diese Geschichte vom Großin­quisi­tor, die der eine Brud­er geschrieben hat. Eine Geschichte im 16. Jahrhun­dert, Jesus taucht wieder auf, in Cor­do­ba. Jesus sagt gar nichts, aber der Großin­quisi­tor hält einen Monolog, warum es nicht geht, warum das so, wie es jet­zt organ­isiert ist, mit der Kirche, schon der richtige Weg ist (lacht). Die anderen wür­den sowieso nicht ver­ste­hen, was mit dieser Ethik gemeint sei, und so wie sie das machen, haben sie das alle im Griff und so läuft’s auch.

Da ist Dos­to­jew­s­ki eben sehr deut­lich, wo die Schwierigkeit liegt, Spir­i­tu­al­ität zu einem Dog­ma zu machen. Eine spir­ituelle Idee zu einem Dog­ma zu machen, gelingt nicht mal richtig im Bud­dhis­mus oder im Hin­duis­mus, da gibt’s halt nur Ansätze.

HHF: Mir ist aufge­fall­en und da sind wir wieder bei schon erwäh­n­ten Befreiungs­the­ma – was immer wieder in deinen Tex­ten vorkommt, ist die Tanzmeta­pher.  Das ist ein­er­seits natür­lich etwas sehr Musikalis­ches, aber es gibt so etwas wie »wir zer­tanzen die Fun­da­mente« in diesem Album.

Michy Reincke: Ja diese Meta­pher, es gibt ein Zitat von Dylan, wie sehen sie sich sel­ber, ja als Sing- and Dance­man. Das ist im Grunde genom­men das Bild, sin­gend und tanzend durchs Leben zu gehen.

Im Inner­sten meines Wesens glaube ich daran. Ich habe meinen Zivil­dienst in ein­er Altenwohnan­lage gemacht und ich habe alte Men­schen ster­ben sehen als 19-Jähriger. Was die Quin­tes­senz eines Lebens ist – da bin ich dort zum ersten Mal mit dieser Frage in Kon­takt gekom­men. Es gibt unter­schiedliche Arten, sein Leben zu beschließen. Das ist tat­säch­lich so bis zu dem Augen­blick, wo jemand sagt, so Frau Meier, noch drei Wochen, tut uns leid, das ist der Krebs, es geht immer weit­er. In dem Moment sitzt die draußen auf dem Stuhl und guckt sich die Wolken an und hört den Vögeln zu und nimmt eigentlich wahr, worum es essen­tiell und sub­stantiell geht. In “Sign O The Times” heißt es: »Man aint hap­py tru­ly unless man tru­ely dies«.

Und selb­st wenn ihr Mann Leit­er eines großen Wirtschaft­sun­ternehmens gewe­sen wäre und ihr Leben ständig im Ver­gle­ich und im Wet­tbe­werb und unter Konkur­ren­z­druck gewe­sen ist: In dem Moment wo sie weiß, dass sie ster­ben muss, weiß sie, das alles andere fauler Zauber und dummes Zeug ist. Das ist das, worauf ich in jed­er drit­ten, vierten Zeile mein­er Arbeit immer wieder gerne hin­weise.

HHF: Das ist ja in gewis­sen Sinne eine barocke Leben­se­in­stel­lung, es erin­nert vielle­icht an Andreas Gryphius, wo Men­schen unter dem Ein­druck, was vorher war, kurz nach dem Ende des dreißigjähri­gen Krieges, ein sehr starkes Endlichkeits­be­wusst­sein hat­ten. Alles vergänglich, alles eit­el – woher kommt, außer aus der Indi­vid­ualer­fahrung, diese starke Konzen­tra­tion auf die Augen­blick­swahrnehmung?

Michy Reincke: Ich hab einen sehr inter­es­san­ten Kon­fir­ma­tion­sun­ter­richt in den frühen 70ern genossen. Da hat uns unser Pas­tor Dorn, von der Wands­bek­er Chris­tuskirche, bei unseren Freizeit­en, am Schaalsee, in Gar­tow, so hek­togra­phierte Zettel gegeben das standen, so wie bei Bob Dylan (lacht), irgendwelche Fra­gen drauf.

Diese Auseinan­der­set­zung in früh­ester Jugend mit diesen sub­stantiellen Fra­gen, das kann natür­lich auch zur Pose wer­den, und das kann natür­lich auch eine Eit­elkeit sein, man wird aber immer wieder darauf zurück­ge­wor­fen. Meine Mut­ter ist sehr jung ver­stor­ben, die war 17/18, als ich zur Welt kam und ist mit 48 gestor­ben, mein Vater ist auch nur Anfang 60 gewor­den, das waren immer Abschnitte in meinem Leben, wo ich sel­ber Schwierigkeit­en hat­te, mich sel­ber exis­ten­tiell auf irgend­was zu konzen­tri­eren.

Wie komme ich jet­zt weit­er durch, was kann ich machen? Reicht das? Mir ging es aufrichtig nie darum, reich und berühmt zu wer­den – es ging wirk­lich immer darum, Freude an den Sachen zu haben, die man tut. Natür­lich auch darum, Ungerechtigkeit­en zu benen­nen.

Ich mach das nicht, damit ich irgend­wie ’nen roten Flitzer fahren oder mir einen Swim­ming­pool  in meinen Vor­garten bauen kann. Ich mache das, weil ich tat­säch­lich auch eine Ver­ant­wor­tung spüre, für mich sel­ber, für mein Umfeld, Sit­u­a­tio­nen oder Voraus­set­zun­gen zu schaf­fen, wo man ein glück­lich­es, selb­st­bes­timmtes, einiger­maßen unab­hängiges Leben führen kann. Das wün­sche ich mir eben auch für meine Fre­unde.

Zum Beispiel ist diese Ver­ant­wor­tung für die regionale Musik­szene in der Hans­es­tadt und in Nord­deutsch­land, da sind das die grund­vor­rauset­zen­den Impulse, die mich das haben machen lassen. Ich wün­sche mir, dass in dem Moment, in dem ich ster­ben werde, Frieden in diese große Bal­ance mein­er Gedanken einkehrt und mich nicht sprach­los zurück lässt. »Hätte ich das gewusst, hätte ich es ein biss­chen anders gemacht«

Das geht vom Tod mein­er Mut­ter aus, wo ich sehr inten­siv spürte, die war gar nicht so sehr schock­iert darüber, dass sie ster­ben musste, son­dern dass das alles gewe­sen sein soll. Der Schmerz set­zt sich dadurch zusam­men, zu erken­nen, die wichti­gen Sachen habe ich nicht gemacht und ich bin mir dessen bewusst – ich hab die Dinge nicht erkan­nt. Da kann Spir­i­tu­al­ität in jed­er Form, natür­lich auch in den kon­ven­tionellen For­men, hil­fre­ich sein. Es kann aber auch Möglichkeit sein, sein Leben in möglichst vie­len Momenten kreativ zu ver­brin­gen.

Die Grund­vo­raus­set­zung für alles wird immer die Liebe sein, die Liebe zu seinem eige­nen Leben, die Liebe zu den Men­schen, die einen begleit­en, und die Liebe zu den Din­gen. Und deshalb ist das so.

HHF: Das ist ja ein beina­he neutes­ta­men­tarisch­er Ansatz?

Michy Reincke: Es hat nichts mit der Kirche zu tun, und da ist Dos­to­jewk­si für mich auch wirk­lich ein großes Vor­bild, der auch sagt, Jesus Chris­tus bleibt trotz­dem, trotz all dieses Idio­ten­tums, ist er der Beste. Lass ihn nicht übers Wass­er gegan­gen sein, lass ihn nicht aufer­standen sein, er ist trotz­dem ein­er besten von uns.

HHF: Ein schönes Schluss­wort. Vie­len Dank für dieses Gespräch.

Wir danken den Ham­burg­er Muse­um für Völk­erkunde für die bere­itwillige Unter­stützung bei der Ortswahl für dieses Inter­view.

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