Meine Tage mit Thilo – Erster Tag

Zu den beson­de­ren Pri­vi­le­gi­en von Rezen­sen­ten gehört es ja, bei Ver­la­gen die ent­spre­chen­den Lese­ex­em­pla­re von Büchern, die ihn inter­es­sie­ren könn­ten, anzu­for­dern. Dafür ist man froh und dank­bar und man muss, beson­ders als frei­er Schrei­ber, nicht alles, was man hin­ter­her am liebs­ten nicht mehr im Schrank haben will, als Spen­de für die eige­ne Arbeit sehen. So habe ich denn Thi­lo Sar­ra­zin »Deutsch­land schafft sich ab« bestellt. Über das Buch ist so viel geschrie­ben und gere­det wor­den, der Autor inter­viewt und beschimpft wor­den, jeder – auch die, die es offen­bar nicht gele­sen haben – hat eine Mei­nung dazu hat. In soge­nann­ten auf­ge­klär­ten Krei­sen natür­lich eine Nega­ti­ve, in der ZEIT las ich jüngst etwas über den »Rechts­po­pu­lis­ten« Sar­ra­zin. Ich woll­te also auch so eine Mei­nung haben, aber dann doch nicht, ohne mich zu über­zeu­gen, was da eigent­lich drinsteht.

Irgend­wann ist er dann da, der Papp­um­schlag, drin Lie­fer­schein und Buch, frisch und ein­fo­liert. Nach all dem, was man so gehört hat, hat­te ich mir das Gan­ze immer schwarz­rot­gold vor­ge­stellt, zumin­dest aber mit einer tri­ko­lo­ren Ban­de­ro­le. Das stimmt schon ein­mal nicht, der Schutz­um­schlag ist knall­rot. Und dar­auf der Name des Autors, weiss ver­sa­le Gro­tesk, dann der Titel, schwarz, auch Gro­tesk. Schwarz, weiß, rot. Dazu fie­le mir gleich zu Anfang schon was ein, aber das hat ja mit dem Inhalt nichts zu tun. Beim ers­ten Dau­men­blick sehe ich ein Vor­wort zur Auf­la­ge, schaue ins Imprint und den­ke, Don­ner­wet­ter, 14. Auf­la­ge. Beein­dru­ckend, das ist mal eine Haus­num­mer! Und ein Hau­fen Tabel­len und – fehlt nur noch die deut­sche Fuß­no­te, über die ich auch schon ein­mal ein gan­zes Buch gele­sen habe. Und rich­tig, es gibt auch einen Fuß­no­ten-Appen­dix. Dann liegt es erst mal auf dem Tisch und erwar­tet sei­ne Lektüre.

Es schlum­mert das Werk dann ein paar Tage und es gibt genug ande­res zu tun. Din­ge, die viel­leicht nicht so wich­tig sind wie die Inte­gra­ti­ons­po­li­tik in der Bun­des­re­pu­blik, aber auch getan wer­den müs­sen. Geld ver­die­nen zum Bei­spiel. Oder Later­ne lau­fen mit dem Nach­wuchs, es ist schließ­lich Novem­ber. Dann aber steht in der Online-Aus­ga­be der »WELT«, eines die­ser trut­schig-kon­ser­va­ti­ven Blät­ter, das mir sonst höchst sel­ten unter­kommt: »Thi­lo Sar­ra­zin streicht umstrit­te­ne Buch-Pas­sa­gen«. Was lese ich da? In der augen­blick­li­chen Auf­la­ge steht offen­bar etwas ande­res als in der Ers­ten. Schnell nach­ge­schaut – ja, es ist die 14. Auf­la­ge, die beschnit­te­ne Aus­ga­be. BESCHNITTEN! O Gott! Ist das schon ein Sieg des Ori­ents? Wohl nicht, denn an sich ist das ja kein Bein­bruch (Bein­bruch ist bestimmt unver­fäng­li­cher als beschnit­ten), aber schon ein biss­chen ärger­lich, so bekom­me ich jetzt nur Sar­ra­zin light. Ich muss wohl end­lich mal anfangen. 

Die ers­ten Sei­ten sind, neben dem Vor­wort über die Beschnei­dungs­ze­re­mo­nie, etwas nebu­lös. Gut geschrie­ben fin­de ich das auch nicht, der Autor schwankt immer ein wenig zwi­schen aka­de­mi­schem Vor­trag­stil und dem »was mir ganz per­sön­lich wich­tig« ist.

Wich­tig ist ihm eine Men­ge, aber so ganz kommt das aus den Ber­gen von Zita­ten und Quer­ver­wei­sen nicht rich­tig raus. Ein paar Sei­ten spä­ter ler­ne ich das schö­ne Word »MINT-Fächer« ken­nen, etwas, das ganz wich­tig ist, zu beherr­schen, damit Deutsch­land führend<(schon wie­der so ein »Achtung«-Wort, eiei­ei …) bleibt oder ist. MINT ist die Abkür­zung für Mathe­ma­tisch-Infor­ma­tik-irgend­was und das ist wich­tig für die Volks­wirt­schaft. Steht da. Spä­ter kom­men dann die ande­ren Fächer vor, die man stu­die­ren kann, Phi­lo­so­phie zum Bei­spiel, die mag der Autor nicht so, weil sie nicht wich­tig für die Volks­wirt­schaft sind. Dane­ben steht auch eine Tabel­le, die das belegt. So rich­tig kann einem das als Geis­tes­wis­sen­schaft­ler nicht schme­cken, aber viel­leicht stimmt das ja auch.

Über­haupt, die Bele­ge. Ich bin schon fast geneigt, eine Art Beleg­quo­ti­en­ten zu kre­ieren, so was wie NpZ (Nach­weis pro Zei­le). Gefühlt der liegt der min­des­tens bei 1,8. Kaum ein Gedan­ken­gang ver­geht ohne Beleg »bedeu­ten­der Wis­sen­schaft­ler«, deren Namen ich Unwis­sen­der noch nie gehört habe, vor­zugs­wei­se ame­ri­ka­ni­scher Pro­ve­ni­enz, also aus ame­ri­ka­ni­scher Pro­vinz. Je län­ger man das liest, des­to mehr wird einem klar: Der Mann glaubt dar­an. Ein Tech­no­krat, und zwar ein rich­ti­ger. Was ich nicht so rich­tig ver­ste­he, sind Tabel­len wie »Indi­ka­to­ren für das Sozi­al­ver­hal­ten und Schicht­zu­ge­hö­rig­keit«, da gibt es Kate­go­rien wie »unver­sorg­te Zäh­ne«, »eige­ner Fern­se­her im Kin­der­zim­mer« und »allein­er­zie­hend«. Da steht dann, man ahnt es, die höchs­ten Zah­len bei der Unter­schicht. War­um aus­ge­rech­net die­se Kate­go­rien wich­tig sind, steht da nicht. Nun gut. Ich bin ja auch erst auf Sei­te 78. Inter­es­sant für mich als volks­wirt­schaft­lich unpro­duk­ti­ven Geis­tes­wis­sen­schaft­ler ist aller­dings, dass der Autor die Begrif­fe des sozio­lo­gi­schen Schich­ten­mo­dells ziem­lich ver­ein­facht. Im nächs­ten Kapi­tel (»Armut und Ungleich­heit«) wird im Übri­gen schon die Wahr­heit ange­kün­digt: »Vie­le gute Absich­ten, wenig Mut zur Wahr­heit« steht im Unter­ti­tel. Ich fin­de das auf­re­gend, mein nächs­ter Tag mit Thi­lo wird sicher span­nen­der als der Erste.

Fort­set­zung folgt …

2 Kommentare

  1. Den Ver­such, sich durch den Thi­lo hin­durch zu lesen, fin­de ich ehren­wert. Das hat ja nicht mal die wer­te Frau Kanz­le­rin gemacht, bevor sie sich dar­über aus­ge­las­sen hat. Aber der Titel, Herr Schu­mann, der Titel des Bei­tra­ges! Den fin­de ich groß­ar­tig. Com­pli­men­ti! Ich erwar­te den zwei­ten Tag mit Spannung.

  2. Respekt! Ich hät­te mich nicht an den Wäl­zer ran­ge­traut. Nein, nicht, weil ich grund­sätz­lich ande­rer poli­ti­scher Mei­nung bin als Herr Sar­ra­zin (das bin ich zwar, aber ich bin auch ande­rer Mei­nung als Hei­ner Mül­ler, Tho­mas Mann oder Ernst Jün­ger, und die lese ich den­noch gern), son­dern weil ich (als Geis­tes­wis­sen­schaft­ler mit, immer­hin, Neben­fach Poli­tik­wis­sen­schaf­ten) aus frü­he­ren Debat­ten­bei­trä­gen des Herrn gelernt habe: Sar­ra­zin kann nicht argu­men­tie­ren. Er sucht sich aus­schließ­lich Argu­men­te, die ihm in den Kram pas­sen, füt­tert die­se mit Res­sen­ti­ments und Vor­ur­tei­len und blen­det alles aus, was sei­ne Theo­rie in Fra­ge stel­len könn­te. Das lässt sei­ne Tex­te so lang­wei­lig, auch so abge­kop­pelt von der Rea­li­tät erschei­nen, dass ich mich eigent­lich gar nicht mit ihnen beschäf­ti­gen möch­te. Dan­ke: It’s a dir­ty job, but someone’s got­ta do it.

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