Ein Heimatabend der anderen Art

Rainald Grebes »Volksmusik« am Thalia Theater

Und jet­zt alle! (Bild: © Gre­gor Buir — Fotolia.com)

Noch ist der Vorhang geschlossen. Noch zir­pen die Grillen im Zuschauer­raum und wiegen das Pub­likum in trügerisch­er Sicher­heit. Fährt der Vorhang hoch, putzt Mar­tin Brauer, Grebes kon­ge­nialer Schlagzeuger, sich die Zähne, das macht ein tolles Geräusch vom Schrubben bis zum Gurgeln, denn er tut das natür­lich mit Mikro. Den ersten Lach­ern nach zu urteilen, befürchtet im Zuschauer­raum nie­mand etwas. Mit Jens-Karsten Stolls Auftritt im Rasen-bedruck­ten Diri­gats-Frack allerd­ings ist es vor­bei mit dem Frieden. Denn der dirigiert einen Schre­i­chor. Zwar nur auf der Lein­wand, aber ordentlich Wumms hat das alle­mal, immer­hin sind das Thalia-Schaus­piel­er mit grandios­er Mimik und aus­geprägten Orga­nen.

Und so begin­nt sie, die Sozi­olo­gie des cho­risch geprägten Lauts. Denn nicht mehr und nicht weniger ist es, was Rainald Grebe uns an diesem Thalia-Abend ver­spricht. Oder um mit Musik­wis­senschaftler Ernst Klusen zu sprechen, der im Pro­grammheft zitiert wird: “Von seinen Anfän­gen her ist das Sin­gen eine Laut­ge­bärde, die des Wortes nicht bedarf.” So weit so gut.

Der Vorhang fällt wieder, und das erste Lied, dessen Text nicht fehlen darf, ist “Wo man singt, da lass dich ruhig nieder/Böse Men­schen haben keine Lieder” – mit ein­er Klarheit präsen­tiert von ein­er Mit­sän­gerin des soge­nan­nten Bürg­er­chors, dass es fast schon anrührt. Niemals würde das bei Grebe so ste­hen bleiben, nein, während der let­zten Zeilen muss ein Grebe´scher Bruch her. Den besorgt Jens-Karsten Stoll, der mit ein­er kleinen Taschen­lampe in ihren Hals leuchtet, während der Vorhang aufge­ht und auf der Rück­wand die Stimm­lip­pen in Aktion pro­jiziert wer­den – fast ein obszön­er Anblick mit diesen Spe­ichelfä­den, die sich dazwis­chen span­nen.

Dann geht alles ganz schnell, ein Baum (natür­lich eine Linde!) schwebt von der Decke, und ein paar Bierk­isten wer­den zusam­mengestellt. Nun braucht es nur noch Rainald und die “Kapelle der Ver­söh­nung”, die Band mit der er einst das Pro­gramm “Volksmusik” kreierte, das bere­its 2006 im Tipi am Berlin­er Kan­zler­amt für Begeis­terungsstürme sorgte. Das Lager­feuer-Idyll mit Mar­cus Baum­gart an der Gitarre und zün­ftigem Flens­burg­er-Flaschen-Plöpp als Per­cus­sion von Brauer mutiert zum Volk­slieder-Med­ley von Xavier Naidoo bis zu Finale-Fußballgesän­gen. Denn was kann das Volk­slied sein, wenn nicht das Lied, das “das Volk” heute singt.

Ist das also das Ziel des Abends? Feld­forschung in der Volksmusik? Das wird zumin­d­est behauptet. Und wie Grebe ganz richtig kon­sta­tiert, darf der das Volk nicht fürcht­en, der sich mit dessen Musik beschäftigt. Fol­gerichtig wur­den Men­schen auf der Straße zum The­ma “Volk­slied” befragt. Was die aus dem Hin­terkäm­merchen ihrer Erin­nerung kra­men, wird per Video an die Lein­wand pro­jiziert und sorgt im Pub­likum für Heit­erkeit. Von “Am Brun­nen vor dem Tore” bis “Lustig ist das Zige­uner­leben”, vom Teenag­er bis zum Senioren­paar – den Text kann irgend­wie kein­er mehr. Und so leicht kommt auch das Pub­likum nicht davon. Es wird dun­kler auf der Bühne, Grebe geht in Diri­gen­ten-Pose, es gibt Volksmusik-Karaoke: “Der Mond ist aufge­gan­gen”, der Text kommt von der Lein­wand, und unisono singt das Pub­likum, dass es eine Freude ist.

Ganz wohlig wird einem im Zuschauer­raum. Ver­führerisch ist es, in der Menge unterzu­tauchen, ganz aufzuge­hen im gemein­schaftlichen Gesang, und ange­blich kommt auch daher der Deutschen Unwohl­sein zum The­ma Volk­slied. Das Dritte Reich, so Grebe in seinen Aus­führun­gen, habe uns die Begeis­terung am gemein­samen Volk­slieder-Sin­gen schlichtweg ver­saut.

Doch der Fokus, das wird schnell klar, soll hier gar nicht nur auf “die Deutschen” gerichtet wer­den, denn wir sind sehr mul­ti­kul­ti, und das beweist Grebe auch. Auftritt “Ham­burg­er Bürg­er­chor”: 17 Men­schen aller Alters­grup­pen und Natio­nen hat Grebe mit seinem Team gecastet, und die machen den Abend zu dem, was er ist. Sie kom­men aus Ham­burg oder aus Alban­ien, aus dem tief­sten Ruhrpott, haben Wurzeln in Cura­cao, Nor­we­gen, Rus­s­land oder der Türkei. Sie tra­gen rote Schuhe, Capri-Leg­gins mit Turn­ho­sen darüber und dazu weiße Blusen mit ein­er Art Cor­sage. Sie sind eine Mis­chung aus Motet­ten­chor und Fußball-Mannschaft, und wenn es poet­isch oder (alp-) traumhaft wird, tauschen sie die Sportho­sen gegen weite Reifröcke, egal welchen Geschlechts (Kostüme: Kristi­na Böch­er).

Dieser Bürg­er­chor trägt Rainald und seine Jungs durch den Abend mit Ern­sthaftigkeit und Pro­fes­sion­al­ität. Chor­leit­er Jens-Karsten Stoll hat diesen engagierten Haufen mit unter­schiedlich­sten Stim­men und Tal­en­ten zu einem homo­ge­nen Chor der Vielfalt geformt. Die dür­fen sin­gen, schuh­plat­teln und den Amerikanis­chen Line Dance tanzen, was das Zeug hält. Einige von ihnen waren gar zu Recherchezweck­en in Grund- und Stadt­teilschulen, um zu hören, was “die jun­gen Leute” heute so sin­gen. Nix mehr mit “Leise rieselt die 4/auf das Noten­pa­pi­er” oder “Von den blauen Bergen kom­men wir”. “Deine Mud­da” und “Agathe Bauer” haben auf der Thalia-Bühne eben­so ihre Berech­ti­gung wie Zitate aus “Des Knaben Wun­der­horn” und Fußballchöre. “Das ist doku­men­tarisches The­ater, ich versteh´s nicht mehr”, so Grebe kopf­schüt­tel­nd.

Doch natür­lich ver­ste­ht er, beispiel­sweise wenn er mit den Damen des Bürg­er­chors bei schw­erem Beat und Ham­mond-Orgel “Die Stimme des Volkes” singt mit Zeilen wie “Die Wut kommt von unten, und da gehört sie hin” oder “Ich singe für alle, ich bin schwarz-rot-gold”. Das hat den bit­ter­bösen Beigeschmack, den man von Grebe ken­nt. Darauf einen Klecks Sahne und eine ordentliche Por­tion Idyll: Grebe darf in eine Ket­tenkarus­sellschaukel steigen und über die Geschichte des Volk­sliedes von Herder bis Achim von Arn­im referieren. Das ste­ht neben dem aggres­siv­en Sound von vorhin, als gehöre es zusam­men. Und an diesem Abend tut es das auch. Genau wie der Türk-Pop zum Line Dance, die rus­sis­che Volk­sweise zum alban­is­chen Gesang und das argen­tinis­che Ban­do­neon zu Krefeld.

Und wenn Grebe am Ende wie so oft von sein­er Heimat auf der Auto­bahn singt, von Rei in der Tube, Etap Hotels, dem Tom­Tom und dem baumel­nden Wun­der­baum, verzei­ht man ihm sog­ar,  dass er kein Ende find­et und der Abend let­ztlich doch ein biss­chen zer­fällt. Man will ja auch gar nicht, dass er die Bühne ver­lässt, genau­so wenig wie sein Bürg­er­chor. Denn hier geht es um etwas, nach dessen Def­i­n­i­tion sich irgend­wie jed­er sehnt, und Grebe ist ganz vorne mit dabei – mal mit mehr The­ater, mal mit weniger: auf der Suche nach einem Heimatabend der anderen Art. Und davon darf er gern noch ganz viele machen.

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