Oben ohne

Jérôme Bels integratives Theater-Projekt "Disabled Theater" auf Kampnagel

Bek­loppte.
Irre.
Ver­rück­te.
Dep­pen.
Trot­tel.
Wahnsin­nige.
Krüp­pel.
Doofe.
Idioten.
Schafköpfe.
Unfähige.

Es gibt doch recht viele Worte für das Fremde im Men­schen. Es sind Dis­tanzierun­gen, Abgren­zun­gen und Stim­men der Angst vor dem Anderen, dem Unvernün­fti­gen, dem aus ein­er Norm gerück­ten, dem Ver-rück­ten. Und erzählt einem ein­er, es sei doch “total selb­stver­ständlich”, nicht mit anderen Augen auf das Ver­hal­ten außer­halb dieser Norm zu schauen, so beeilt der bewusste Men­sch sich, sein Ein­ver­ständ­nis zu sig­nal­isieren.

Man könne doch nicht … die armen Behin­derten … was die alles DOCH noch kön­nen … ist doch ergreifend … vom Schick­sal geschla­gen … und doch … – geschaut wird trotz­dem. Und da auf dem The­ater viel geschaut wird und viel aus­gestellt, liegt es doch nahe, das auch ein­mal zu ver­suchen. Schon um darauf – worauf eigentlich genau? – hinzuweisen, wie aus­ge­gren­zt all die sind, die nicht sind wie die Anderen.

Dis­abled The­ater. Auf der Kamp­nagel-Bühne sind elf Men­schen, die nicht sind wie die Anderen, und sie wer­den angeschaut. Ein­er nach dem Anderen. Am Rande des leeren Raumes, 11 Stüh­le im großen Viertelkreis, an jedem Stuhlbein eine Wasser­flasche mit einem ordentlichen Min­er­al­wass­er, sitzt Simone Truong. Sie ist Chore­o­graphin, bedi­ent einen Lap­top und ruft die Akteure einzeln auf, zweis­prachig, englisch und schweiz­erdeutsch. Jérôme Bel hat einen straf­fen Rah­men geschaf­fen für sein Pro­jekt, sie ist die Zer­e­monien­meis­terin für den Ablauf des Abends. Die Dik­tion ist schnei­dend und hat stark appella­tiv­en Charak­ter. “Jérôme Bel will …”, “Jérôme Bel möchte…” – Jérôme Bel stellt durch sie Auf­gaben, eine nach der anderen.

Die erste dieser Auf­gaben ist es, sich eine Minute lang dem Pub­likum auszuset­zen. Gang an die Rampe, 1 Minute ver­har­ren, Abgang. Die Erwartung scheint hoch zu sein, es sind doch “Behin­derte” – schaf­fen die das über­haupt? Kein­er wird ent­täuscht, denn natür­lich ist die Minute bei den elf Darstellern unter­schiedlich lang, von weni­gen Sekun­den bis hin zur Abgangsauf­forderung vom Inspizien­ten­pult: “Peter!” Es ist eine Übung.

Schon hier wird das Dilem­ma dieses Pro­jek­ts deut­lich. Natür­lich stellt es “die armen Bek­loppten” aus. Natür­lich schaut nie­mand aus dem Pub­likum gerne hin. Und selb­stver­ständlich ist diese knappe erste Vier­tel­stunde quälend. Es bedeutet ja auch nichts, in erster Lin­ie. Aber es wird auf die immer absurde, ver­drehte Sit­u­a­tion, auf den ent­blössenden Charak­ter des The­aters ver­wiesen, und anges­tar­rt zu wer­den ist ver­mut­lich nichts Neues für die Elf auf der Bühne. Aber trotz­dem wird präsen­tiert, wird aus­gestellt, wird vorge­führt.

Das geht auch so weit­er, das Ensem­ble soll sich vorstellen, ein jed­er seine “Diag­nose” erzählen. Das reicht von Lern­schwäche bis Tri­somie, die Berufs­beze­ich­nung ist bei allen “Schaus­piel­er”. Schließlich hat jed­er die Auf­gabe – siehe oben – bekom­men, nach einem Musik­stück sein­er Wahl eine eigene Chore­o­gra­phie vorzustellen. Das ist der Haup­takt des Abends, Jérôme Bel hat sieben Stücke aus­ge­sucht, die der Rei­he nach per­formt wer­den, unter­dessen die Kol­le­gen im Stuh­lkreis teils kom­men­tierend zuschauen. Ein jed­er zeigt das, was er kann, und das, was er mag.

Der Zuschauer ist angemessen beein­druckt. Immer wieder greift die Bel´sche Klam­mer der Kon­fronta­tion zwis­chen dem Gewöhn­lichen und dem Unge­wohn­ten. Es ist kein erbauen­des Vergnü­gen, deformierte Kör­p­er über die Bühne zap­peln zu sehen. Es ist kein the­atrales Kön­nen, kein Handw­erk, nicht schön anzuse­hen.

Der teil­weise stür­mis­che Szene­nap­plaus würdigt immer den “Rah­men der Möglichkeit­en” und nie einen direk­ten Akt der Erken­nt­nis. Und genau an dieser Stelle find­et die Drehung des Ver­hält­niss­es zwis­chen den wohlwol­lend Begafften und den Gaffern statt. Aus dem The­atergänger wird ein Mitlei­d­sap­plaudeur. Das ist eine harte Erfahrung. Sie ist ohne Zweifel quälend. Das The­ater fasst an und stellt bloß, Darsteller wie Zuschauer.

Denn die Fall­höhe ist hoch. Ein­er­seits die Ausstel­lung des The­ater­mo­ments, eine kleine Ent­blößung des nach dem Effekt gieren­den Zuse­hers. Und ander­er­seits find­et jene Bloßstel­lung, die das Ganze zeigen will, als Präsen­ta­tion des Hand­i­caps, der Unfähigkeit statt.

Es gibt eine alte roman­tis­che Sehn­sucht in der Kun­st nach der unmit­tel­baren, der ganz und gar reinen Erfahrung. Die Darstel­lung des luci­den, genialis­chen Kün­stlers, der sich außer­halb gesellschaftlich­er Nor­men befind­et, führt hinein in eine Welt der Verk­lärung und Über­höhung von sozialen Defiziten, ist eine Recht­fer­ti­gung des unheim­lichen kreativ­en Prozess­es, dessen Herkun­ft nicht erk­lär­bar scheint. Kreativ­ität erscheint fol­gerichtig aus dem Wahn, her­aus­gerückt aus der Mitte der Akzep­tanz. Ver­rückt.

Faszinierend ist das für den “Nor­malen” unbe­grei­fliche und nicht Fass­bare, Genie und “Irrsinn” gehen in ihren Bedeu­tungsräu­men Hand in Hand. Auch Jérôme Bel fühlt sich auf diese Weise inspiri­ert von seinen Schaus­piel­ern, er wün­scht sich: “Zu zeigen, dass [ihre] the­atrale Einzi­gar­tigkeit voller Ver­sprechun­gen für das The­ater und den Tanz ist, so wie ihr Men­sch­sein es für die Gesellschaft im All­ge­meinen sein sollte.”

Die Frage, ob das humane Anliegen des The­ater­ma­ch­ers über­haupt durch­dringt, ist an diesem Abend imma­nent. Schließlich, am Ende des Stück­es, kom­men die Darsteller noch ein­mal zu Wort, dies­mal sollen sie ihre Erfahrung mit der Auf­führung bericht­en. Ein­er sagt sin­ngemäß: “Meine Eltern fan­den, das sei eine Freak­show, ich fand das nicht.” Bei­des ist wahr.

“Alles, was han­delt, ist eine Grausamkeit.” Das ste­ht bei einem anderen Ver-rück­ten, dem The­ater­vi­sionär Antonin Artaud.

Nackt. (© Har­ald Schmid — Fotolia.com(

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