Parforceritt durch Georgiens 90er

Jette Steckels Adaption von Nino Haratischwilis „Das mangelnde Licht“ am Thalia Theater ist eine bildgewaltige Herausforderung, die sich lohnt.

Die Kamera immer im Anschlag. Bild: Armin Smailovic

Vier Back­fi­sche in Schul­uni­form am Büh­nen­rand vor dem eiser­nen Vor­hang. Es ist dun­kel, es wird gegig­gelt und gequietscht, die Stim­mung ist ver­gnügt, an der Gren­ze zur Teen­ager-Hys­te­rie. Krei­schen­der Abschluss der Sze­ne ist ein Sprung ins küh­le Nass, zumin­dest hören wir es plat­schen. Der Vor­hang hebt sich, der Blick ist frei auf die monu­men­ta­le Büh­ne von Flo­ri­an Lösche. Varia­ble Wand­ele­men­te, bedruckt mit abs­trak­ten ver­pi­xel­ten Bil­dern, die sich mit­hil­fe der Dreh­büh­ne blitz­schnell zu immer neu­en Räu­men und Gän­gen schie­ben las­sen. Die Ver­pi­xelung gibt allem, was dar­auf pro­ji­ziert wird, einen leicht unschar­fen Retro­charak­ter – ein klu­ger Zug, spielt sich der Roman Hara­ti­schwi­lis doch in der Erin­ne­rung der Prot­ago­nis­tin­nen ab.

Nun aber sind wir im Jahr 2019 in Brüs­sel, auf der Retro­spek­ti­ve einer der vier Haupt­fi­gu­ren, als der Vor­hang sich hebt. Dina Pir­vel­li hat es zu eini­ger Berühmt­heit als Foto­gra­fin gebracht. Ihre drei Freun­din­nen Qeto, Nene und Ira tref­fen sich dort und erken­nen mit Unwohl­sein ihre trau­ri­ge Berühmt­heit durch die Bil­der: »Hier ste­hen wir, das Trio, das ent­kom­men ist, das den Sprung in die Gegen­wart geschafft hat. Wir, die Über­le­ben­den, die ver­su­chen, für all die­je­ni­gen wei­ter­zu­le­ben, denen es nicht ver­gönnt war, und die für immer und ewig auf die­sen Bil­dern jung blei­ben wer­den«, sagt Qeto. Und schon zie­hen Dinas Bil­der die drei in den Bann der Erin­ne­rung, nach Tif­lis ins Jahr 1989 – und uns gleich mit.

Tee­an­ger-Lie­be.
Bild: Armin Smailovic

Die Zeit, die noch bleibt

Wir tau­chen ein: In eine wil­de Teen­ager­zeit, eine Zeit der gro­ßen ers­ten Lie­ben, der Unbe­dingt­heit von Gefüh­len, der Auf­leh­nung gegen die eige­ne Fami­lie, des wil­den Rock’n‘Rolls, der Bruce-Lee-Pla­ka­te in Jung­szim­mern, auf deren Bett­kan­ten das ers­te Mal scheu und unbe­hol­fen geküsst wird. Wir erle­ben Fami­li­en und ihre (tra­gi­schen) Geschich­ten, das Unver­ständ­nis der her­an­wach­sen­den Gene­ra­ti­on über Ent­schei­dun­gen ihrer Eltern, das Brül­len am Abend­brot­tisch, Hei­zungs­aus­fäl­le und Trä­nen­aus­brü­che. Das Auf­ein­an­der­pral­len der Gene­ra­tio­nen, an das wir uns selbst noch erin­nern, manch­mal, wenn wir die Über­le­gen­heit des Erwach­sen­seins ver­ges­sen, wird hier poten­ziert durch Man­gel­wirt­schaft, Hun­ger, Armut, durch Fami­li­en­mit­glie­der, die gestor­ben oder inhaf­tiert sind. Es ist ein Kes­sel vol­ler Druck, der irgend­wann zwangs­läu­fig explo­die­ren muss.

Film ab für ein Land am Abgrund

»Das man­geln­de Licht« ist ein bild­ge­wal­ti­ger Stru­del der Geschich­te eines geknech­te­ten Lan­des und der Men­schen, die dar­in leben, tem­po­reich und fil­misch erzählt, teil­wei­se in har­ten Schnit­ten, ein Stru­del, bei dem man gera­de erst in einer Sze­ne ange­kom­men ist, wenn die nächs­te beginnt. Es gibt Momen­te, da wünscht man sich, Regis­seu­rin Jet­te Ste­ckel hät­te sich für man­ches mehr Zeit genom­men, dafür auf den ein oder ande­ren Strang ver­zich­tet. Ihre Stück­fas­sung fei­er­te einen Tag nach Erschei­nen des Romas 2022 Pre­miè­re, Autorin und Regis­seu­rin ken­nen sich aus Stu­di­en­ta­gen. Viel­leicht ist das der Grund für Ste­ckels vor­sich­ti­gen Umgang mit der Vor­la­ge, die sie offen­bar in jeder schil­lern­den Facet­te auf die Büh­ne brin­gen woll­te. Das macht den Abend par­ti­ell etwas atem­los. Aber hier soll weni­ger geme­ckert wer­den: Die Büh­nen­fas­sung der 832 Buch­sei­ten ist ein tem­po­rei­cher fil­mi­scher Par­force­ritt durchs Buch in Bil­dern, die sich in die Iris bren­nen, und das spiel­ver­ses­se­ne Ensem­ble stürzt sich mit einer Ver­ve und Spiel­lust in sei­ne diver­sen Rol­len, dass es eine wah­re Freu­de ist.

Die Kame­ra immer im Anschlag. Bild: Armin Smailovic

Das Geor­gi­en der 90er-Jah­re ist durch poli­ti­sche Wir­run­gen, Man­gel­wirt­schaft und Dro­gen­han­del ein Land wie eine klaf­fen­de Wun­de. Die vier Freun­din­nen strau­cheln durch die ers­ten Jah­re der geor­gi­schen Unab­hän­gig­keit, ein Land in Cha­os und Gewalt, die Gespal­ten­heit einer jun­gen Demo­kra­tie, den Krieg in der Regi­on Abra­si­en. Bür­ger­krieg und mafiö­se Struk­tu­ren neh­men im Lauf des Abends immer grö­ße­ren Raum des Büh­nen­ge­sche­hens ein. Ste­ckel insze­niert die­se Situa­tio­nen scho­nungs­los bru­tal mit dem kal­ten Blick der Beob­ach­te­rin von außen – dem Blick Dinas, die spä­ter als Kriegs­re­por­te­rin durch Kri­sen­re­gio­nen rei­sen und für ihre Arbei­ten Prei­se gewin­nen wird. Man­che Sze­nen des Abends sind Aus­nah­me­si­tua­tio­nen, in denen das mora­lisch-ethi­sche Han­deln der Freun­din­nen auf eine har­te Pro­be gestellt wird.

Die Ent­schei­dung für Moral und gegen die Ret­tung des eige­nen Bru­ders: Lisa Hag­meis­ter als Qeto. Bild: Armin Smailovic

Qetos Bru­der Rati bei­spiels­wei­se, ein wüten­der jun­ger Mann vol­ler Ver­zweif­lung, wird immer tie­fer in die Clan-Struk­tu­ren gezo­gen, obwohl er eigent­lich gegen die die poli­ti­schen Pro­ble­me sei­nes Lan­des revol­tie­ren möch­te. Natür­lich wer­den ihm Dro­gen unter­ge­scho­ben, er wird inhaf­tiert. Eine gro­ße Geld­sum­me soll ihn aus dem Gefäng­nis holen. Mit eben­die­ser Sum­me lau­fen sei­ne Schwes­ter Qeto und sei­ne Freun­din Dina nachts durch das kri­mi­nel­le Gesche­hen der Stadt. Sie pas­sie­ren eine Schlä­ge­rei, in der zwei Clan­mit­glie­der die Schul­den aus einem Drit­ten her­aus­prü­geln. Dina ent­schei­det, den Prü­geln­den das Geld zu über­las­sen, um dem Mann das Leben zu ret­ten. Sie wird spä­ter ihren Kör­per ver­kau­fen, um Rati aus dem Gefäng­nis zu ret­ten. Ein Bild in Dinas Aus­stel­lung zeigt Qeto in genau die­ser Situa­ti­on. Es ist ein Moment mora­li­scher Über­le­gen­heit und ufer­lo­ser Ver­zweif­lung zugleich, vor Angst hat sie sich erbro­chen. Ihr Blick matt vor Wut und Erschöp­fung, ungläu­big dar­über, wie Dina in solch einem Moment den Aus­lö­ser der Kame­ra bedie­nen kann. Mit eben­die­sem Foto wird Dina spä­ter Prei­se gewinnen.

Rosa Thor­mey­er und Frit­zi Haber­landt als Nene und Iri­ne. Bild: Armin Smailovic

Trügerische Flucht aus dem Moloch

Dies ist nur eine der Sze­nen, die sich an die­sem Abend ein­bren­nen. Wir beglei­ten die Haupt­fi­gu­ren und ihre Fami­li­en, sehen patri­ar­cha­le Fami­li­en­struk­tu­ren, jun­ge Frau­en, die in einer arran­gier­ten Ehe ins Unglück stür­zen, jun­ge Män­ner, die in Clan­struk­tu­ren zer­bre­chen, das Hero­in als ein­zi­ge Mög­lich­keit zur Flucht aus dem Moloch. Wir sehen Trau­ma­ta, die nicht mehr hei­len wer­den, die Kom­ple­xi­tät von Bezie­hun­gen, die Höhe­punk­te gro­ßer Gefüh­le und den Schmerz einer nicht erwi­der­ten Lie­be. Und neben­bei zei­gen uns Bil­der von Geor­gi­ens Bür­ger­krie­gen ein­drück­lich, wie ein Land in poli­ti­schen Macht­kämp­fen zer­rie­ben wird. Am Ende schaf­fen es Qeto, Nene und Ira nach Brüs­sel – drei von Vie­ren. Sie haben über­lebt. Man­che haben eben mehr Recht auf Licht als ande­re. »Das man­geln­de Licht« ist ein Rausch, der einen auf eine Art emo­tio­nal ver­ka­tert zurück­lässt. Wer sich dar­auf ein­lässt, wird danach atem- und viel­leicht wort­los aus den Türen des Tha­lia Thea­ters tre­ten in die früh­lings­haf­te Nacht und den Nach­hall noch lan­ge spüren.

Zum letz­ten Mal in die­ser Spiel­zeit am 14. April 2024 um 15.00 Uhr.

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