Politik per Losverfahren

Im Gespräch mit Dagrun Hintze und Ron Zimmering, die mit »Staging Democracy« am Hamburger Lichthof Theater ein demokratisches Bühnenexperiment wagen

Staging Democracy
Demokraten der Tafelrunde: An diesem Tisch fanden die fünf "Factories" statt, für die Inszenierung selbst wird er zentrales Element des Bühnenbilds. (Bild: Marcel Stammen)

Wahlen sind undemokratisch — so die These von David Van Rey­brouck, dessen Buch “Gegen Wahlen” Dagrun Hintze zu “Stag­ing Democ­ra­cy” am LICHTHOF The­ater inspiri­erte. Sie entsch­ied sich kurz­er­hand, einen Abend über Demokratie zu konzip­ieren, der die Gesellschafts­form nicht nur zum The­ma hat­te, son­dern sich ihrer Prinzip­i­en bedi­ent.

Im alten Athen war es selb­stver­ständlich, dass jed­er Bürg­er für eine begren­zte Zeit poli­tis­che Ver­ant­wor­tung über­nahm – und zwar nach dem Zufall­sprinzip: Das Los bes­timmte. Bei “Stag­ing Democ­ra­cy” wurde Ham­burg­er Bürg­erin­nen und Bürg­ern ein poli­tis­ches Fachge­bi­et zugelost, in das sie sich selb­ständig einar­beit­eten. Daraufhin disku­tierten sie untere­inan­der in fünf Fac­to­ries zu The­men wie “Wirtschaft und Finanzen” oder “Verkehr, Stad­ten­twick­lung und Wohnen”.

Die Ergeb­nisse der Fac­to­ries wur­den in ein­er “Demokratis­chen Sprech­stunde” ein­er Runde von Ham­burg­er Poli­tik­ern und Poli­tik­erin­nen präsen­tiert und von ihnen wei­t­er­disku­tiert. Jet­zt fließen sie in das Stück mit ein, das am 15. Juni im LICHTHOF The­ater uraufge­führt wird.

HHF: Zum Ein­stieg: Wie kam es zu der Idee von “Stag­ing Democ­ra­cy”?

Dagrun Hintze, Ini­tia­torin und kün­st­lerische Leitung des Pro­jek­ts. (Bild: Mar­ius Röer)

Dagrun Hintze: Am Mor­gen der Trump-Wahl war ich in Dres­den, wo ich ger­ade an einem Stück über die Krise des Jour­nal­is­mus arbeit­ete. Und wieder war es so wie beim Brex­it: Man war noch halb­wegs entspan­nt ins Bett gegan­gen, und dann tick­erten mor­gens um 7.00 Uhr die SMS los, so dass man gar nicht mehr den Fernse­her anmachen musste: Die Katas­tro­phe war passiert. Weil ich Angst hat­te, in Dres­den auf die Straße zu gehen und auf feiernde Men­schen zu tre­f­fen, dachte ich mir: Ich muss jet­zt sofort was machen. Und da ich ja ohne­hin dauernd mit par­tizipa­tivem The­ater bzw. The­ater zu poli­tis­chen The­men beschäftigt bin, kam ich auf die Idee, mit den Mit­teln dieser Form von The­ater die Demokratie selb­st in den Blick zu nehmen.

Ich hat­te ger­ade “Gegen Wahlen – Warum Abstim­men nicht demokratisch ist” von David Van Rey­brouck gele­sen – ein extrem inter­es­santes Buch, das dann ganz zen­tral wurde für die Idee von “Stag­ing Democ­ra­cy”. Darin geht es um das antike Prinzip des Aus­losens, von dem ich bis­lang über­haupt nichts gewusst hat­te – im alten Athen wurde die Mehrzahl der poli­tis­chen Ämter nicht per Wahl vergeben, son­dern per Los und jew­eils nur für ein Jahr. Davon aus­ge­hend habe ich dann über­legt, wie man das mit The­ater zusam­men­brin­gen kön­nte, wie man den Raum The­ater öffnet, um gesellschaftliche Debat­ten hineinzu­holen. Ich bin der Überzeu­gung, dass wir nicht nur im The­ater, son­dern in allen Kün­sten im Moment die Auf­gabe haben, uns konkreter mit Poli­tik zu befassen. Ich freue mich schon wahnsin­nig auf die Zeit, in der wir wieder kom­plizierte Lyrik vor­tra­gen kön­nen, die nie­mand ver­ste­ht (lacht), aber ich glaube, ger­ade geht es wirk­lich um etwas anderes.

All diese Gedanken kamen am Vor­mit­tag nach der Trump-Wahl zusam­men, und ich schrieb das Grund­konzept für “Stag­ing Democ­ra­cy” rel­a­tiv zügig auf. Das schick­te ich Elis­a­beth Burch­hardt (Co-Autorin, bei “Stag­ing Democ­ra­cy” Mod­er­a­torin, Anm. d. Red.), um her­auszufind­en, ob sie es völ­lig schwachsin­nig find­et, aber sie fand es gut. Und da ich ohne­hin schon mit Matthias Schulze-Kraft an der Idee arbeit­ete, eine Bürg­er­bühne am Lichthof The­ater zu etablieren, habe ich es ihm kurz­er­hand vorgeschla­gen. Dann ging alles sehr schnell, auch mit der Förderung. Mir war zwar klar gewe­sen, dass man mit einem solchen The­ma in Zeit­en wie diesen ziem­lich weit kom­men kön­nte, aber das Tem­po hat mich dur­chaus über­rascht.

Wiederbelebung einer antiken Idee

HHF: Daraufhin habt ihr die fünf “Fac­to­ries” mit Ham­burg­er Bürg­ern abge­hal­ten. Ich habe ver­sucht, mir einen Überblick zu ver­schaf­fen, wie viele Forderun­gen an die Poli­tik pro Fac­to­ry ent­standen sind, und kam auf drei bis zwanzig – je nach poli­tis­chem The­ma. Aus diesen Forderun­gen ent­stand die “Demokratis­che Sprech­stunde”, bei der die Forderun­gen Vertretern der Ham­burg­er Bürg­er­schaft – qua­si in fünf Akten – vorgestellt wur­den. Es kam dort ja tat­säch­lich zu einem recht drama­tis­chen Ver­lauf mit unver­hohlen­er Aggres­sion gegen die Poli­tik­erin­nen und Poli­tik­er, einem Abgang mit Tür-Knallen etc., d.h. ihr hat­tet noch mehr Mate­r­i­al. Wie macht man denn aus all dem am Ende ein Stück?

Dagrun Hintze: Das entwick­eln Ron Zim­mer­ing und ich zusam­men, bzw. muss Ron natür­lich die Frei­heit haben, mit dem Mate­r­i­al umzuge­hen. Ich würde nicht davon aus­ge­hen, dass wir ein Stück aus den Fac­to­ries und der “Demokratis­chen Sprech­stunde” machen, son­dern es wird in dem Stück all­ge­mein­er um die Demokratie und demokratis­che Prozesse gehen, die wir um die Erfahrun­gen, die wir gesam­melt haben, ergänzen. Auf der Bühne sind teil­weise Leute dabei, die auch an den Fac­to­ries teilgenom­men haben, die also die Erfahrun­gen aus dem ersten Teil des Pro­jek­ts mit­brin­gen, aber natür­lich kann man auf der Bühne nicht in diesem diskur­siv­en, disku­tieren­den Teil bleiben. Da sind andere Ideen, Umset­zun­gen und Bilder gefragt.

Ron Zim­mer­ing, Regis­seur von “Stag­ing Democ­ra­cy”. (Bild: Mar­cel Stam­men)

Ron Zimmer­ing: Der Unter­ti­tel lautet ja “Wieder­bele­bung ein­er antiken Idee”, und ich sehe die zwei Teile, also die Fac­to­ries und die Insze­nierung, als zwei Seit­en ein­er Medaille. Das eine ist der prak­tis­che Selb­stver­such, das andere wie ein kün­st­lerisches Ereig­nis, ein Stück, in dem wir ver­suchen, das The­ma Demokratie an sich auf die Bühne zu brin­gen. Und während der erste Teil ganz prak­tisch so funk­tion­iert hat, dass wir Ham­burg­er Bürg­er aus­gelost haben und sie über lokale The­men debat­tieren ließen, geht es in dem zweit­en Teil viel mehr darum, grund­sät­zlich über Demokratie nachzu­denken, ohne die lokale Ein­schränkung auf Ham­burg. Da machen wir uns Gedanken, wie “Woran hakt’s? Wie kön­nte Demokratie anders funk­tion­ieren? Macht so ein Losver­fahren Sinn, wie es im antiken Griechen­land prak­tiziert wurde?”. Es sind also zwei Per­spek­tiv­en auf ein The­ma.

HHF: Und wie geht ihr konkret an die Textgestal­tung und Insze­nierungsar­beit?

Dagrun Hintze: Textlich haben wir einen Teil, der auf Experten­wis­sen beruht, sich aus Inter­views speist. Wir haben eine His­torik­erin für Alte Geschichte zu den Ursprün­gen der Demokratie inter­viewt, die auch Exper­tin für das Losver­fahren ist. Außer­dem haben wir einen Schöf­fen dabei, das ist die einzige Funk­tion, die von der aleatorischen Demokratie bei uns übrig geblieben ist – schließlich wird man dafür aus­gelost und darf dieses Amt zunächst mal auch nicht auss­chla­gen.

Ron Zim­mer­ing: Hinzu kom­men Orig­inal­texte, z. B. von Herodot. Mit diesen Tex­ten war unsere Mate­rialmappe zu Beginn gefüllt. Anhand dessen haben wir ver­sucht, eine grobe Dra­maturgie zu entwer­fen. Zen­trum bildet für mich die These von Van Rey­brouck, weil Demokratie an sich ein­fach ein unendlich weites The­ma umfasst. Ich finde es span­nend, das über eine so steile These zu disku­tieren, die besagt, dass Wahlen genau dazu führen, dass Demokratie abgeschafft wird. Und dass wir seit 2.500 Jahren mit Demokratie exper­i­men­tieren, aber erst seit ein paar Jahrhun­derten mit Wahlen. Daraus schließt Van Rey­brouck, dass wir statt Wahlen das Losver­fahren ein­führen soll­ten. Der erste Gedanke dazu ist: “Wie bitte? Wie soll das denn funk­tion­ieren?” In seinem Buch hat er dazu eine ganz hüb­sche Dra­maturgie entwick­elt wie eine Art Krankengeschichte. Er beschreibt zunächst die Symp­tome der heuti­gen Demokratiemüdigkeit, gibt eine Art Diag­nose und Patho­genese, wie es dazu gekom­men ist, bis hin zur Ther­a­pie, wie man das lösen kön­nte.

Das ist eigentlich auch ganz grob unser Bogen, den wir auf der Bühne span­nen. Aber natür­lich nehmen wir die Gedanken unser­er Teil­nehmenden mit auf. Wir haben einen Chor von etwa 20 Ham­burg­er, die einen schö­nen Quer­schnitt durch die Gesellschaft darstellen und ein sehr bre­ites Spek­trum abdeck­en. Der Chor ist für mich der Inbe­griff ein­er Mini-Polis wie im alten Griechen­land. Bei der Auf­führung bilden wir durch unsere 20 Leute und die Zuschauer den Aus­gangspunkt, um zu fra­gen, was wir mit der Demokratie zu tun haben, was im ersten Schritt unser Prob­lem ist und woran sich das Demokratie-Müdigkeitssyn­drom bei jedem einzel­nen ganz konkret und im größeren Kon­text zeigt.

Danach unter­suchen wir, wie es dazu gekom­men ist, betra­cht­en die Ursachen, befra­gen die Geschichte der Antike, sehen uns alter­na­tive Gesellschaftsmod­elle an. Auf der Bühne wollen wir dieses Losver­fahren spielerisch-the­atral durchge­hen. Das ist aus mein­er Sicht der Bogen des Textes, mit dem wir in die Proben gegan­gen sind. Im Prozess haben wir pro­biert, das Mate­r­i­al zu ord­nen und unsere Teil­nehmenden gebeten, sich mit ihrer eige­nen Biografie und ihren eige­nen Erfahrun­gen dazu ins Ver­hält­nis zu set­zen. Daraus haben wir ver­sucht, unter­schiedliche Spielanord­nun­gen zu schaf­fen, worin die Teil­nehmenden vorkom­men.

HHF: Der Bürg­er­chor oder das Pub­likum?

Ron Zim­mer­ing: Bei­de. Das Pub­likum wird immer wieder über bes­timmte Sachen abstim­men bis hin zur Aus­lo­sung einiger Zuschauer, die dann let­ztlich auch bei einem Spiel mit­machen.

“Stinknormale” Menschen auf der Bühne

Dagrun Hintze: Was ich an der Idee ganz inter­es­sant finde, ist der Gedanke von “Experten des All­t­ags”, also von “stin­knor­malen” Men­schen, die sich auf die Suche danach machen, ob Demokratie funk­tion­iert oder nicht. Weil sie eben keine Poli­tik­erin­nen, Poli­tik­er oder Profis sind, son­dern ver­suchen, ihr Leben in diesem Sys­tem zu meis­tern, und dabei Erfahrun­gen machen. Insofern finde ich den Polis-Gedanken tat­säch­lich klug, da leben eben nicht nur die Men­schen, die einen aus­gewiese­nen Plan von ein­er Sache haben, son­dern ein­fach Bürg­erin­nen und Bürg­er

Ron Zim­mer­ing: All das wird durch die Experten wie die Alt­philolo­gin oder den Schöf­fen ergänzt, deren Leben­sre­al­ität mit Poli­tik bzw. Demokratie ver­bun­den ist.

HHF: Ich fand es span­nend, dass sich bei der Bürg­er­sprech­stunde bere­its viel ein­gelöst hat, das Pub­likum sehr aktiv, ja teil­weise aggres­siv mit­disku­tiert hat. Dazu kam das sehr men­schliche Ver­hal­ten der Vertreter der Ham­burg­er Bürg­er­schaft, die ihr aus­gewählt hat­tet. Let­ztlich wurde qua­si Otto Nor­mal­bürg­er zu einem poli­tisch agieren­den Sub­jekt, das ihr aus der Pas­siv­ität geholt habt, und zum anderen wur­den die Poli­tik­er auf die Bürg­erebene geholt. Ein span­nen­der Moment, der durch die Büh­nen­si­t­u­a­tion ent­standen ist.

Demokratie auf der Bühne des Lichthof Theaters
Bei der “Demokratis­chen Sprech­stunde” stell­ten sich SPD- und Grü­nen-Vertreter der Ham­burg­er Bürg­er­schaft den Forderun­gen, die in den Fac­to­ries erar­beit­et wor­den waren. (Bild: Jens Meier)

Dagrun Hintze: Mich haben die Poli­tik­erin­nen und Poli­tik­er auch alle sehr beein­druckt. Und ich hätte wirk­lich nicht mit ihnen tauschen wollen. Wie beispiel­sweise Ste­fanie von Berg (Fach­sprecherin für die The­men Schule und Berufs­bil­dung, Inklu­sion und Reli­gion in der grü­nen Frak­tion, Anm. d. Red.) mit der Aggres­sion im Raum umge­gan­gen ist, die ich ver­hält­nis­mäßig wah­n­witzig fand, hat mir sehr imponiert. Ins­ge­samt hat mich die Ver­anstal­tung allerd­ings eher mitgenom­men, weil ich es wirk­lich schwierig fand, mit den Energien umzuge­hen, die dort aufka­men. Gemessen daran, dass wir ein Feier­abend­par­la­ment haben und diese Men­schen für eine geringe Aufwand­sentschädi­gung 20 Stun­den pro Woche und mehr diesen Job machen, halte ich eine solche Aggres­sion ihnen gegenüber für kom­plett absurd.

Das Gegenteil von common sense

HHF: Die Poli­tikver­drossen­heit scheint mit­tler­weile vielerorts in Aggres­sion gekippt zu sein.

Dagrun Hintze: Ich finde die Undif­feren­ziertheit des Feind­bildes “Poli­tik­er” schock­ierend. Und ich hat­te gehofft, dass man sich in so einem offe­nen Büh­nen­for­mat bess­er ver­ständi­gen kann. Wer sollte das denn son­st hinkriegen, wenn nicht diese engagierten Men­schen, die sich hier frei­willig zusam­menge­fun­den haben? Glück­licher­weise gab es dann aber auch sehr viele pos­i­tive Rück­mel­dun­gen aus dem Pub­likum.

Ron Zim­mer­ing: Ich hat­te von der Ver­anstal­tung eigentlich mehr com­mon sense erwartet, da die Zuschauer doch alle aus ein­er ähn­lichen Rich­tung kom­men. Dass sich dann trotz­dem solche Fron­ten gebildet haben, hat mich geschockt.

HHF: Das hat mich auch wirk­lich verblüfft. Ehrlich gesagt dachte ich am Anfang der Ver­anstal­tung, dass das ein sehr langer Abend wer­den würde, als ich die Menge der Forderun­gen aus den Fac­to­ries sah. Wie soll man zu all dem vernün­ftig Stel­lung nehmen? Im End­ef­fekt war ich über­rascht, wie ich let­ztlich “dran” geblieben bin – nicht nur auf­grund der Aggres­sion im Raum, son­dern weil die Inhalte von den Teil­nehmern wirk­lich toll auf­bere­it­et waren.

Dagrun Hintze: Wenn ich so was noch mal machen würde, würde ich mich bei den Inhal­ten sich­er etwas beschränken. Fünf Grup­pen haben immer­hin einen ganzen Tag an ihren Forderun­gen gear­beit­et – wie kriegt man das alles an einem Abend unter? Ich denke, wir hät­ten da reduzieren müssen. Ander­er­seits ging es ja ger­ade darum, die Band­bre­ite zu zeigen.

Ron Zim­mer­ing: Uns war es ein Anliegen, dem Gehör zu ver­schaf­fen, woran die Teil­nehmer acht Stun­den gear­beit­et hat­ten.

HHF: Durch eine Beschränkung hät­ten einzelne Aspek­te natür­lich inhaltlich tiefer gehend disku­tiert wer­den kön­nen. Nichts­destotrotz: Je mehr Abstand ich zu der Ver­anstal­tung gewon­nen habe, desto mehr habe ich eure Entschei­dung für die Band­bre­ite ver­standen.

Dagrun Hintze: Die Frage ist natür­lich immer, ob man von der Dra­maturgie ein­er Ver­anstal­tung her denkt – dann würde man es sich­er anders machen –, oder ob man den Schw­er­punkt darauf legt, dass ein­mal alles gehört wird.

Spektakuläre Ideen der Antike

HHF: Welche Form habt ihr für die Insze­nierung des Abends selb­st gewählt?

Ron Zim­mer­ing: Hier greifen mehrere For­men ineinan­der: Es gibt cho­rische Ele­mente, in denen die Texte von Dagrun vorkom­men und die mit unserem Chor­leit­er Marc Aisen­brey von der Hochschule für Musik und The­ater Ham­burg geprobt wer­den. Dazu kom­men par­tizipa­torische Ele­mente, an denen das Pub­likum beteiligt ist, und biografis­che Pas­sagen vom Bürg­er­chor. Ergänzt wer­den diese Teilaspek­te durch die “All­t­ag­sex­perten”, also Men­schen, die etwas aus ihrer Exper­tise her­aus erzählen, wie beispiel­sweise dem Schöf­fen.

Ins­ge­samt möcht­en wir die inhaltlichen Aspek­te zu starken The­sen verdicht­en und unseren Bürg­er­chor dazu mit seinen biografis­chen, indi­vidu­ellen Erfahrun­gen ins Ver­hält­nis set­zen. Es geht uns nicht darum, Erken­nt­nisse zur Demokratie zu referieren oder den Zuschauern Wis­sen zu präsen­tieren. Eben­so wenig sollen auss­chließlich per­sön­liche Befind­lichkeit­en im Fokus ste­hen. Wir möcht­en den Bogen zwis­chen fundiert­er Infor­ma­tion und per­sön­lich­er Erfahrung span­nen.

Dagrun Hintze: Da kommt natür­lich immer die Frage auf, worin sich was spiegelt. Demokratie beste­ht ja aus dem Ver­hält­nis des Einzel­nen zur Gemein­schaft und umgekehrt. Deswe­gen finde ich die Entschei­dung für den Chor wichtig. Die Frage ist tat­säch­lich immer: Wie set­zt man sich ins Ver­hält­nis.

HHF: Wenn man sich mit der Herkun­ft der Demokratie beschäftigt und im antiken Griechen­land lan­det, ist man ja auch schnell beim klas­sis­chen Dra­men­be­griff. Und dort war doch genau das die Form: das Indi­vidu­um, das sich zum Chor ins Ver­hält­nis set­zt. Dazu macht euer Bogen ja auch noch mal einen Bezug auf – und das Span­nende ist doch: offen­bar aus der Notwendigkeit der von euch gewählten Form her­aus und nicht, weil ihr das griechis­che Dra­ma als Vor­bild genom­men habt.

Dagrun Hintze: Das hängt ganz kon­se­quent mit der Herkun­ft zusam­men. Was ich im Zuge der Recherche an Details erfahren habe, wie die Demokratie im alten Griechen­land organ­isiert war, ist wirk­lich spek­takulär. Beim Lesen dachte ich mir oft, Mist, die hat­ten doch schon alles begrif­f­en, die haben wirk­lich viel gewusst. Viele sagen, dass sich der dama­lige Demokratiebe­griff nicht auf ein großes Gemein­we­sen wie Deutsch­land oder gar Europa über­tra­gen ließe. Aber ich komme immer mehr zu dem Schluss, dass man sich all das noch mal genauer anse­hen sollte.

HHF: Ron, warst du von Anfang an dabei, oder wur­dest du erst später dazuge­holt?

Ron Zim­mer­ing: Die Ini­tia­torin und kün­st­lerische Lei­t­erin des Pro­jek­ts ist ganz klar Dagrun. Sie hat auch die Anträge zur Förderung gestellt und mich dann als Regis­seur ange­sprochen dazuzukom­men. Bei der Konzep­tion­ierung der Fac­to­ries etc. war ich dann schon Teil des Teams. Im ersten Part war ich beobach­t­end dabei und jet­zt bei der Insze­nierung sehe ich meine Ver­ant­wor­tung als Regis­seur darin, alles zu einem Ganzen zusam­men­zufü­gen.

HHF: Woher ken­nt ihr euch?

Ron Zim­mer­ing: Obwohl meine Mut­ter niemals mit dem Gedanken gespielt hat­te, The­ater zu machen, fand sie sich bei einem par­tizipa­torischen The­ater­pro­jekt in Dres­den wieder, wo Men­schen jüdis­ch­er Herkun­ft gesucht wur­den. Dagrun schrieb für das Pro­jekt die Texte.

Dagrun Hintze: Rons Mut­ter erzählte mir natür­lich von ihrem Sohn, und deshalb habe ich mir dann sein Pro­jekt “hei­mat­en” am Jun­gen Schaus­piel­haus ange­se­hen. Als wir für “Stag­ing Democ­ra­cy” einen Regis­seur sucht­en, der schon mal mit par­tizipa­tivem The­ater und mit Stück­en­twick­lun­gen zu tun gehabt hat­te, fiel Ron mir sofort ein. Matthias Schulze-Kraft kan­nte ihn auch schon von eini­gen Arbeit­en. Bud­get­tech­nisch war natür­lich außer­dem von Vorteil, dass Ron in Ham­burg lebt.

Der Laienfalle entkommen

HHF: Zum The­ma “par­tizipa­tives The­ater”: Mit Laien zu arbeit­en, ist ja etwas ganz Spezielles. Wie führt man sie vor allem an kün­st­lerische Texte wie die von Dagrun her­an?

Ron Zim­mer­ing: Zunächst mal sind sie für mich keine Laien, son­dern All­t­ag­sex­perten. Ich gucke mir sehr genau an, wo das Poten­zial liegt. Und das liegt hier natür­lich nicht darin, diese Men­schen im Spiel zu Fig­uren zu brin­gen, denn ver­suchen sie etwas, was andere viel bess­er kön­nen, und am Ende bleibt es immer Laienthe­ater. Der Ver­such ist, dem Ganzen eine inszena­torische Form zu geben, wo sie mit ihrer Biografie zu Hause sein kön­nen. Die starken Möglichkeit­en liegen meines Eracht­ens ger­ade im Laien­haften, darin, dass da jemand nicht bewusst spielt, son­dern von sich erzählt. Die Per­sön­lichkeit und Biografie dieser Men­schen ist das Poten­tial für diese Insze­nierung.

Trotz­dem haben wir natür­lich auch Texte, für die es etwas Arti­fizielles braucht, um aus der Laien­falle rauszukom­men. Dafür gehen wir auf cho­risches Sprechen, was eine enorme Archaik und Kraft hat. Da haben wir dann wieder die Rem­i­niszenz an die Antike – und geben dem Ganzen eine strenge Form, die sich gut proben lässt.

Dagrun Hintze: Form ist das Stich­wort. Bei nicht-pro­fes­sionellen Darstellern ist die Form entschei­dend, um alles zusam­men­zuhal­ten.

HHF: Ket­zerische Frage: Ihr macht einen demokratis­chen Abend. Welch­es Mit­spracherecht haben eure Darsteller?

Ron Zim­mer­ing: Das ist insofern eine span­nende Frage, weil ich finde, Kun­st ist ja auch Dik­tatur. Für mich muss nicht in jedem Prozess demokratisch entsch­ieden wer­den. Es gab vor­ab den Selb­stver­such, der kom­plett von den Teil­nehmern gestal­tet wurde und die Bürg­er­sprech­stunde zum Ziel hat­te. Und jet­zt gibt es eine Insze­nierung mit einem Regis­seur. Ich sehe es als meine Auf­gabe, dem Ganzen eine Form zu geben, und dabei wird nicht demokratisch entsch­ieden. Trotz­dem möchte ich nie­man­dem ein­fach Texte in den Mund leg­en. Hier kom­men die Ver­such­sanord­nun­gen ins Spiel. Ich ver­suche, Impro­vi­sa­tion­sraster zu schaf­fen, die sie mit ihren eige­nen Worten füllen kön­nen.

Ins­ge­samt set­ze ich also – abso­lut dik­ta­torisch – Rah­men, die Inhalte aber wer­den von den Teil­nehmenden gener­iert – und von uns im Nach­hinein geord­net und geformt. So habe ich das Gefühl, dass sie an der Entste­hung wesentlich mit­beteiligt sind. Und man merkt, das sind Men­schen, die eine Frage an die Demokratie haben, sich ein Viertel­jahr mit dem The­ma auseinan­der­set­zen und ihre Mei­n­ung dann auf der Bühne vertreten, keine Mar­i­onet­ten, die lediglich Inhalte auf der Bühne trans­portieren.

Dagrun Hintze: Diese The­ater­form heißt ja nicht umson­st „pro­fes­sionelles The­ater mit nicht-pro­fes­sionellen Darstellern“. Ich finde den Anspruch essen­ziell, dass das eine Kun­st­form ist und dass Profis diese Arbeit machen müssen, weil es son­st nur Gewurs­tel wird. Wir haben das let­zte Wort, weil wir diese Profis sind. Natür­lich wird nie­mand auf der Bühne etwas machen, was er oder sie nicht will. Und natür­lich muss man teil­weise andere Überzeu­gungsar­beit leis­ten als mit Schaus­piel­ern, aber es ist uns wichtig, dem Ganzen einen kün­st­lerischen Rah­men zu geben, der die Teil­nehmer und trägt

Ron Zim­mer­ing: Ich glaube, dass genau das let­zten Endes geschätzt wird. Unsere Darsteller wis­sen, dass sie ein Feld haben, an dem sie mitwirken, aber dass der pro­fes­sionelle Rah­men dazu führt, dass sie nicht die Last des Stück­es schul­tern müssen. Wir proben ein­mal pro Woche, und in dieser kurzen Zeit ist ein kom­plett demokratis­ch­er Prozess gar nicht zu leis­ten.

Dagrun Hintze: Sie ver­lassen sich auf uns und ver­trauen auf das, was wir tun. Die Grund­lage dafür muss man bei solchen Pro­duk­tio­nen erst mal schaf­fen. Der Rah­men ist ja auch Schutz.

HHF:Wäre eine solche Pro­duk­tion in einem der Ham­burg­er Stadtthe­ater möglich?

Dagrun Hintze: Aber klar, ich habe solche Pro­duk­tio­nen schon in Düs­sel­dorf, Dres­den und Aalen am Stadt- und Staat­sthe­ater gemacht. In Karl­sruhe, Ros­tock, Stend­hal etc. gibt es auch extra ein­gerichtete Bürg­er­büh­nensparten. Oft hat die Qual­ität der­sel­ben viel mit Bud­get zu tun. Dres­den ist da beispiel­sweise vor­bildlich, dort wurde richtig Geld in die Hand genom­men. Von Kamp­nagel bis an die Münch­en­er Kam­mer­spiele wurde und wird auch immer wieder mit par­tizipa­torischen For­men gear­beit­et. Par­tizipa­torisches The­ater hat sich also nicht nur in der Freien Szene durchge­set­zt, es ist immer weit­er in die Insti­tu­tio­nen gegan­gen, als eine Form, die das The­ater von innen her­aus erweit­ern kann. Es geht ja nicht um Konkur­renz zur Schaus­pielsparte, was viele Kri­tik­er immer wieder befürcht­en, son­dern um eine Erweiterung des Stadt- und Staat­sthe­aters.

Und natür­lich muss man sagen, dass wed­er das Thalia The­ater noch das Schaus­piel­haus dies­bezüglich Vor­re­it­er sind, was aber möglicher­weise ein­fach an der Großs­tadt liegt. In mit­tel­großen und kleinen Städten funk­tion­iert das deut­lich bess­er, weil die Iden­ti­fika­tion mit den Häusern größer ist. Ins­ge­samt kann man sagen: Klar wäre es möglich, aber eben nicht neben­bei. Wenn man so ein Pro­jekt macht, kostet das enorm viel Zeit, Organ­i­sa­tion und Verbindlichkeit. Das wird oft unter­schätzt.

 

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