Hamburg hat ein neues Festival: “Hauptsache frei — Festival der darstellenden Künste Hamburgs” brachte in nur vier Tagen die spannendsten Produktionen der Hamburger freien Szene an verschiedenste Spielorte. Über 1000 Besucher konnte das junge Festival in seinem ersten Jahr verbuchen.
Gemeinsam mit dem HHF-Leser und Theaterfreund Jonas Dienst besuchte Redakteurin Natalie Fingerhut “Nirvana sehen” in einem alten Schulungssaal des UKE und “PlusMinus Einhundert Jahre” im Monsun Theater. Bei Meyer&Kowski durften sie für eine halbe Stunde sogar zu Assistenzärzten aufsteigen. Nach der Stippvisite blieb kaum Zeit für einen Austausch. Der musste am Montag darauf im Facebook-Chat stattfinden — und darf hier als Kritikersatz herhalten. Ein Experiment.
NF: Na, hast du unser Double Feature bei “Hauptsache frei” gut überstanden?
JD: In der Hauptsache ja!
NF: Und in der Nebensache?
JD: Auch! Beeindruckende Frau — wie hieß die Frau Professor doch gleich bei der Meyer&Kowski-Sensations-Performance? Diese unglaublich präsente Schauspielerin. Wissenschaftlerin UND Patientin in Personalunion!
NF: Ute Hannig! Die Inszenierung hieß „Nirvana sehen“. Für mich eine Entdeckung!
Anmerkung für unsere Leser: Bei “Nirvana sehen” stellte Ute Hannig dem Publikum zwei Erfahrungen vor, die sie selbst einmal als Zuschauerin hatte. Die erste: eine Neurologin, die einen ganz besonderen Vortrag darüber hielt, wie sie bei einem Schlaganfall ihre rechte Gehirnhälfte entdeckte. Die zweite Erfahrung: eine Patientin, der man beide Beine amputiert hat. Ute Hannig hat sie während einer Visite im Münchner Klinikum “Rechts der Isar” vor fünfzehn Jahren erlebt.
NF: Schade, dass „Nirvana sehen” jetzt erst mal nicht mehr in Hamburg läuft. Ich würde es heiß empfehlen.
JD: Nein? Das ist wirklich schade! Man hat es selten, dass einen jemand so einfängt — ohne die Dunkelheit eines Theatersaales. Mit einem „scheinbar“ abgehobenen Thema wie der Hirnforschung… Oder wie ging dir das?
NF: Das stimmt. Marc von Henning hat es in seiner Inszenierung geschafft, dass wir uns in der einen Situation fühlen wie Publikum in einem Vortrag und im nächsten Moment wie junge Assistenzärzte bei einer Visite. Es war aber auch alles so bis ins kleinste Detail durchdacht! Die Kittel fürs Publikum, die wir nach der Pause anziehen sollten, der persönliche Erfahrungsbericht von Ute Hannig zu Beginn, zwischendrin und am Ende. Sie hat uns wirklich in ihre Erinnerung geholt.
JD: Und eine spannende Perspektive: Eine Forscherin die von ihrem eigenen Schlaganfall berichtet — und es als ein GESCHENK sieht. Minutiös beobachtet sie den eigenen Verfall. Man leidet mit, man hat Angst – und gleichzeitig ist man genauso neugierig wie sie.
NF: Das war eigentlich das Sensationelle an diesem Abend. Ein ungewöhnliches Konstrukt!
JD: War es denn wirklich ihre Erinnerung? Die Erinnerung von Ute Hannig? Oder einfach nur perfekt gespielt?
NF: Das ist eben das Spannende, der beabsichtigte Grenzgang unserer Wahrnehmung. Im Programmheft von “Hauptsache frei” steht, es sei die Erinnerung von Ute Hannig. Und da steht, dass Meyer&Kowski sich in ihren Performances wohl immer „einzigartigen Geschichten außergewöhnlicher Menschen an besonderen Orten“ widmen. Das Abgefahrene an den 75 Minuten war ja, dass beides so irrsinnig gut in diesen Raum gepasst hat, einen alten Schulungssaal des UKE.
JD: Ja, dieser leicht morbide, modrige Geruch dieses uralten Saales… herrlich passend! Wer weiß, welche Generationen an Ärzten und Wissenschaftlern dort schon getagt oder gefeiert haben?!
NF: Da hast Du Recht, der Ort atmete absolut Geschichte(n)!
JD: Eine vollumfänglich genehmigungsfähige Sache, wie wir alten Professoren ja so zu sagen pflegen, nicht wahr!?
NF: Absolut. Ich freue mich, dass wir Meyer&Kowski durch das Festival entdecken durften. Will unbedingt mehr sehen von denen.
JD: Wie viele sind denn da am Start? Das ist nicht immer nur die wunderbare Frau Hannig, oder?
NF: Susanne Reifenrath und Marc von Henning sind die Köpfe hinter „Meyer&Kowski“. Die suchen sich immer unterschiedliche Künstler, mit denen sie dann arbeiten.
JD: Weißt du was ich gerade gesehen habe?! Als ich auf deren Facebook-Seite ein Like gesetzt habe?!
NF: Ne, was denn?
JD: Das freut mich ganz besonders: Die haben den Publikumspreis gewonnen!!!
NF: Das hab ich schon auf der Seite vom Hamburger Sprechwerk gelesen. Absolut verdient! Die nächste Produktion von denen gibt´s bereits ab 16.05.: „Nichts – Was im Leben wichtig ist“, nach dem Roman von Janne Teller.
JD: Das lacht uns doch an!
NF: Und weißt Du, was ich gerade entdeckt habe: Wir sind nicht die einzigen, die von Ute Hannig hingerissen waren. Die spielt auch in mehreren Produktionen am Schauspielhaus. Als nächstes in „Die Physiker“. Wie konnte die uns nur bisher entgehen?
JD: Ich habe auf jeden Fall durch das wunderbar organisierte Festival wieder ganz viel Lust auf kleinere Produktionen bekommen!
NF: Ich auch, absolut. Die Idee, ein Festival nur für Hamburger Produktionen zu machen, ist wirklich schlau. Hast Du das mitbekommen, was die drei Bewerbungsvoraussetzungen sind?
JD: Nein, aber DU weißt es bestimmt?!
NF: Ich hab´s gerade noch mal nachgeguckt: Die Produktion muss entweder Premiere in Hamburg gehabt haben, das Produktionsteam muss mehrheitlich in Hamburg ansässig sein oder die Produktion wurde durch eine Hamburger Institution gefördert. Ein schönes Konzept. So bringst du natürlich Produktionen unterschiedlichster Couleur und Herkunft zusammen, obwohl alle Produktionen den kleinsten gemeinsamen Nenner haben, und der heißt Hamburg.
JD: Ich finde, das zeigt doch gerade die Vielfalt hier!
NF: Das ist natürlich genau das, was die wollen. Als ich das erste Mal von dem Festival las, dachte ich mir „Noch ein Festival? Braucht man das?“. Und ich finde: ja! Allerdings: Ich habe ja am Vorabend eine 30-minütige Performance im Lichthof Theater gesehen, die vom Niveau her echt eine ganz andere Liga war…
JD: Gekonnte Mode lebt doch aber auch vom Bruch – sonst wäre es ja langweilig und wir säßen quasi im künstlerischen Onesie da.
NF: Das mag sein. Aber „Chronik Hiccup“ war – trotz stimmlicher Virtuosität der Performerinnen – von der Inszenierung her schon sehr Studententheater. Ich glaub, da mag ich gar nichts drüber schreiben.
Lass uns noch kurz zu “Plusminus 100 Jahre” plaudern.
(keine Antwort)
War das deins?
(keine Antwort)
Kuckuck?
JD: Jetzt streikt mein Internetz. Wir haben es kaputtgechattet, Fingerhut! Kaputt!
NF: Na, jetzt können wir uns ja wieder lesen – zum Glück!
JD: Diese Technik! Aber ja. „Plusminus Einhundert“. Monsun Theater Ottensen. Hinfahrt in einem alten Schulbus aus den USA – mit einer ebenso zarten wie durchsetzungsstarken Fahrerin. Passend zum Stück: drei Frauen in ihrer ganzen Pracht! Wie sahst du das, so als Frau?
NF: Zunächst: Die Busfahrt war wunderbar! Das war – ebenso wie die spannenden Diskussionen (von denen ich ja leider arbeitsbedingt keine besuchen konnte) – ein weiterer Pluspunkt von “Hauptsache frei”: schöne Details, mit Liebe durchdacht! Und „Plusminus“ war schon eine spannende Sache – gerade für mich als Frau.
JD: Für mich als Mann aber auch!
Anmerkung für unsere Leser: Der Text auf der Homepage des Monsuntheaters erklärt das Konzept des Abends wie folgt: „PLUSMINUS EINHUNDERT JAHRE untersucht die Entwicklung von Frauenbildern und Frauenrollen in der Gesellschaft über drei Generationen hinweg. In Interviews mit ihrer Müttergeneration wollen die Theatermacherinnen geschlechtsspezifische Rollenbilder aufspüren und Machtstrukturen herausarbeiten: Wie beschreiben die Mütter ihr Verhältnis zu Karriere? Welche Vorstellungen gab es bezüglich ihrer Rolle als Mutter in der Gesellschaft? Wie beschreiben sie ihre Sexualität? In einem zweiten Schritt zeichnet der Abend eine Zukunftsvision: Ausgehend von ihrer Lebenswirklichkeit heute und dem aktuellen feministischen Diskurs entwerfen die Darstellerinnen eine Welt, die es noch nicht gibt, und vermitteln so ihre Sehnsüchte, Ängste und Forderungen bezüglich der Rolle der Frau in der Gesellschaft.”
NF: Ich fand den ersten Teil berührend, klug, kreativ – voll toller Bilder, schräger Pointen, schöner Bezüge. Es hat mich wirklich angefasst, die Geschichte der Emanzipation aus diesen persönlichen Perspektiven dreier Generationen zu erleben. Es wurde spürbar, wie weit unsere Rollenbilder heute sind und welche Mankos sie natürlich haben.
JD: Sie lassen einen alten Mann ja gar nicht zu Wort kommen!
NF: Na, dann: Bitte!
JD: Ich fand diesen Bogen der Generationen gut: Frauen in allen drei Generationen haben doch Probleme der Selbstverwirklichung, die so unähnlich doch nicht sind. Auch – und gerade – weil heute doch immer gesagt wird, Feminismus sei nicht mehr nötig.
NF: Das bringt es gut auf den Punkt, ja. Ich fand es auch spannend, wie sie das Verhältnis von Frauen zu ihren Körpern beleuchtet haben. Es gab echt intime, sehr schöne, von den Theatermacherinnen sehr mutige Momente – gerade auch in Bezug auf Sexualität.
JD: Es war ein sehr starkes Bild, das diese drei Frauen vermittelt haben – trotz Brüchen, trotz Rückschlägen, trotz Mangel an Gleichberechtigung. Eine “versteckte” Nicht-Gleichberechtigung sozusagen.
NF: Daumen hoch!
JD: Und der einzige Mann im Bunde saß im Tutu am Rand und spielte Orgel.
NF: Ich mochte auch die Position, die der Musiker dazu eingenommen hat, super. Und den Mann im Tutu ans E‑Piano zu setzen, war ein schöner Kniff.
JD: Sie nehmen mir – wie immer – die Worte aus dem Mund, Fingerhut!
NF: Zwei Dumme, ein Gedanke eben. Jedenfalls: Die erste Stunde war schlau, durchdacht, komisch und berührend. Umso enttäuschender fand ich den zweiten Teil. Ich nenne ihn mal „Das Pamphlet“.
JD: Ja. Man hätte nicht 20 Minuten Parolen schreien müssen. Da hätte weniger mehr bewirkt. Auch wenn es die Wut der Damen gut ausgedrückt hat. Vielleicht sollte man gerade deshalb zwei Stunden schreien. Aber dann ginge ja keiner mehr hin am Ende…
NF: Ja, ich glaube, das ganze Produktionsteam war angefasst von dem Thema; es war ihnen wirklich wichtig, und sie waren in den Momenten echt persönlich. Grundsätzlich fand ich die Idee, dass sie vorlesen, wie sie sich eine Zukunft ohne Geschlechtergrenzen vorstellen, auch konzeptionell sehr schön. Aber ein bisschen wirkte es so, als hätten sie da keine Lust mehr gehabt, das vernünftig zu arbeiten.
JD: Ja, da gebe ich dir Recht. Und was das Thema Gleichberechtigung der Frau angeht: So vielfältig, wie Frauen sind und wahrgenommen werden sollten, so vielfältig ist vielleicht auch die Form des Ausdrucks und des Auf-Sich-Aufmerksam-Machens. Darf man das als Mann so mal sagen?
NF: Ich finde, das darf man auf jeden Fall! Trotzdem hätte ein distanzierter Blick, z.B. der eines Dramaturgen, dem Ganzen gut getan. Weißt Du, was ich gerade sehe?
JD: Na?
NF: Sie hatten eine Dramaturgin. Hier steht: Dramaturgie & Produktionsleitung: Susanne Reifenrath. Das ist doch der zweite Teil Teil von Meyer&Kowski!
JD: Mir schwirren die Sinne, Fingerhut…
NF: Die hatte also in beiden Stücken „ihre Finger drin“.
JD: Vielfalt. Oder multiple Persönlichkeit. Auf jeden Fall alles sehr spannend und bereichernd!
NF: Stimmt. Die freie Szene in Hamburg ist extrem vielfältig. Kreative Köpfe kommen in unterschiedlichen Konstellationen zusammen, es mischt sich alles, Allianzen entstehen, ohne dass sie Erstarrung und dauerhafte Verpflichtung bedeuten. Wäre das ein Schlusswort?
JD: Wir haben auf jede Produktion unser Glas erhoben – und das zu Recht! Auf Hamburgs freie Szene!
NF: Dabei! Danke für die kompetente Begleitung und die Online-Plauderei, Dr. Dienst!
JD: Danke ebenso – wiederholbar!
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