Meine Tage mit Thilo – Zweiter Tag

Ich habe ja wirk­lich ein biss­chen gebraucht, um den nächs­ten Tag zu begin­nen. Thi­lo hat­te mir ja Wahr­heit ver­spro­chen, das ist ja eigent­lich eine gute Moti­va­ti­on. Aber ich habe natür­lich auch ein biss­chen Angst vor der Wahrheit.

Aber erst mal ist alles ziem­lich ver­traut: Zah­len, Daten, Tabel­len. Es hat mich ja nicht so ganz los­ge­las­sen, war­um einer mit so viel Mate­ri­al in der Gegend her­um­wirft, um ein The­ma zu stüt­zen, das so ganz noch nicht klar ist, jeden­falls auf Sei­te 100 noch nicht. Wenn man sich die­ses Bild mit den drei iko­no­gra­phi­schen Ein­hei­ten Ruck­sack – Schnau­zer – Trench­coat so anschaut, dann kom­men einem so merk­wür­di­ge Gedan­ken hoch. Das sieht (Trench­coat, Bart) so zutiefst bür­ger­lich-kon­ser­va­tiv aus, dass der jugend­li­che Ruck­sack gera­de­zu iro­nisch wirkt. Aber immer­hin ist so ein Teil ja was soli­de-ver­läss­li­ches und da passt es dann wie­der. Das mit den Zah­len ist ja schon was Sicher­heits­ge­ben­des, »die Zah­len lügen nicht«, jeden­falls nicht so rich­tig. Mir scheint – je län­ger ich drü­ber nach­den­ke – das Soli­de, das Ver­läß­li­che ist ihm wichtig.

Damit geht das auch erst mal wei­ter, auch für die Armut gibt es eine Defi­ni­ti­on, dies­mal kommt sie aus Indi­en (eigent­lich logisch, da sind sie doch ganz schön arm, von hier aus gese­hen). Nach eini­gem hin- und her­ka­pi­teln steht da ein schö­ner Satz: »Nicht die mate­ri­el­le, son­dern die geis­ti­ge und mora­li­sche Armut ist das Pro­blem«. Da hat er wahr­schein­lich recht, das ist immer ein Pro­blem, das mit der Moral. Soll hei­ßen, dass, wenn ich die Mög­lich­keit habe, ein fau­ler Sack zu sein und ich das auch nut­ze, denn das ist unmo­ra­lisch. Ergo, und da sind wir dann bei der ver­spro­che­nen Wahr­heit, ist das ver­ach­tens­wür­dig und schä­digt den Staat. Naja, das waren jetzt immer­hin 50 Sei­ten … zum Glück war die Wahr­heit jetzt nicht so furcht­bar, dass man sich nicht weitertraut …

Ich gebe ja zu, ich habe ein paar Sei­ten über­flo­gen. Da ging es um das Ver­mei­den des fau­ler-Sack­tums durch die Poli­tik und Arbeits­an­rei­ze usw. Aber dann blieb ich an der Über­schrift »Der Bil­dungs­ka­non als hier­ar­chi­sche Struk­tur oder Wie ich lesen lern­te« hängen …
Ich will ja eigent­lich wis­sen, was den Mann bewegt, so ein Buch zu schrei­ben und da steht bestimmt was über ihn drin, dach­te ich. Bis­lang habe ich ja nur gelernt, dass er Zah­len liebt und einen Man­tel hat. Also erfah­re ich, dass er ein Bücher­wurm war und unter einem Goe­the­por­trait im Ohren­ses­sel Tau­send­und­ei­ne Nacht und die »Gro­ße illus­trier­te Welt­ge­schich­te« las. Und natür­lich gab es vie­le Klas­si­ker, denn der »wach­sen­de Wohl­stand« der Fami­lie wur­de in Klas­si­ker­aus­ga­ben ange­legt – natür­lich nicht aus­schließ­lich. Was für ein war­mes haus­vä­ter­li­ches Bild für einen 9‑Jährigen. Erwäh­nens­wert ist, dass er in der »Sex­ta« (huma­nis­tisch!) war und dass es an einem Gym­na­si­um der 50er Jah­re eine stren­ge Aus­le­se bis zum Abitur gab.
Natür­lich erzählt er das nicht, um sei­ne schö­ne Kind­heit zu beschrei­ben. Denn gleich im Anschluss an die Schil­de­rung die­ser Welt, die mich immer noch an Diede­rich Hess­ling den­ken lässt, tau­chen so häss­li­che Wor­te wie »World of War­craft« auf. Wenn man das spielt, dann hat man näm­lich kei­ne Zeit zum Lesen, und »Lese­fä­hig­keit, Text­ver­ständ­nis und das dadurch ermög­lich­te Gene­ral­wis­sen ist die Kern­kom­pe­tenz der Bil­dungs­ver­mitt­lung.« Dann kom­men ein paar Sei­ten über die immer schlech­ter wer­den­den Schul­bü­cher und dar­über bin ich ein­ge­schla­fen. Traum­los. Ob das was zu bedeu­ten hat?

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