Waldbeben

Jochen Biganzolis Deutschstunde mit Carl Maria von Webers »Freischütz« am Theater Lübeck

»Wenn Wälder und Felsen uns hallend umfangen …« (Bild: C. D. Friedrich)
[cle­ar­left] »Sie haben dem Baum weh getan« – die jun­ge Frau ist mehr als auf­ge­löst. Sie gehört zu den soge­nann­ten Akti­vis­ten, die mit allen Mit­teln ver­su­chen, die Rodung eines Wald­stü­ckes in der Nähe von Aachen zu ver­hin­dern. Das Video der emo­tio­na­li­sier­ten Pro­test­le­rin wur­de in den ver­gan­ge­nen Wochen unzäh­li­ge Male in den sozia­len Netz­wer­ken geteilt, oft mit mora­li­sie­ren­den Anmer­kun­gen über das »bru­ta­le Ver­bre­chen« ver­se­hen, das die »skru­pel­lo­se Kon­zer­ne« am »Lebens­raum der Men­schen« ver­ur­sach­ten. Man erreg­te sich äußerst, unge­ach­tet ande­rer Sicht­wei­sen; und selbst sonst eher der Auf­klä­rung zuge­neig­te Men­schen sym­pa­thi­sier­ten mit den selbst­er­nann­ten Baum­schüt­zern und äußer­ten allent­hal­ben Betrof­fen­heit. Der »Deut­sche Wald«, das ist offen­bar eine höchst per­sön­li­che Sache, die sich tief im Bewusst­sein der Nati­on ein­ge­nis­tet hat.

Was auch immer die Deut­schen emo­tio­nal bewegt, es hat wohl auch ein wenig mit den Wur­zeln dunk­ler Tan­nen und lich­ten Auen zu tun, selbst in der immer noch indus­tria­li­sier­ten Gesell­schaft des 21. Jahr­hun­derts. Der Wald und sei­ne Pfle­ge gehört nicht nur zum popu­lär­kul­tu­rel­len Grün­dungs­my­thos der jun­gen Bun­des­re­pu­blik – die Hei­mat-Schmon­zet­te »Der Förs­ter vom Sil­ber­wald« von 1954 mit dem dama­li­gen Traum­paar Ani­ta Gut­well und Rudolf Lenz ist immer noch einer der erfolg­reichs­ten deutsch­spra­chi­gen Fil­me – die Wur­zeln der ver­klä­ren­den Wal­des­lust lie­gen auch in der Kon­sti­tu­ie­rung deut­scher Iden­ti­tät zu Beginn des 19. Jahr­hun­derts. Es ist der Geburts­stun­de der deut­schen Romantik.

Kaum ein Werk der deut­schen Musik­ge­schich­te dien­te so sehr der Iden­ti­fi­ka­ti­on wie Carl Maria von Webers Oper »Der Frei­schütz«. Sie traf den Nerv einer jun­gen, deutsch-natio­nal gesinn­ten Bil­dungs­bür­ger­eli­te, stu­den­ti­sche Schwär­mer, die zum Teil noch in den Befrei­ungs­krie­gen gegen Napo­le­on gekämpft hat­te. Die Schle­gels, Tiecks, Grimms und Arnims die­ser Tage dis­ku­tier­ten sich die Köp­fe heiß, tru­gen »Alt-Deut­sche« Tracht, nicht viel anders als ihre stu­den­ti­schen Nach­fol­ger in der Mit­te des 20. Jahr­hun­dert, die dann aller­dings den Mao-Anzug und das Paläs­ti­nen­ser-Hals­tuch bevorzugten.

Es dau­er­te nicht lan­ge, bis der »Frei­schütz« zur »Deut­schen Natio­nal­oper« erklärt wur­de und sei­ne Melo­dien in die Lie­der­ta­feln und Män­ner­ge­sang­ver­ei­ne der bür­ger­li­chen Gesell­schaft ein­gin­gen. Volks­tüm­li­che Chor­pas­sa­gen wie »Wir win­den dir den Jung­fern­kranz« oder der unver­wüst­li­che »Jäger­chor« mit sei­nen cha­ris­ma­ti­schen Wald­hör­nern waren Schla­ger ihrer Zeit und dar­auf­fol­gen­der Generationen.

Was also kann man mit so einem Stück bewe­gen? Was bedeu­tet es heu­te, in einer Zeit, in der das Bekennt­nis zur Nati­on stets einen Haut­gout tra­gen muss, das Zei­gen natio­na­ler Sym­bo­le immer an der Gren­ze zum Miss­brauch steht und die Suche nach der Iden­ti­tät nicht mehr in natio­na­ler Unbe­darft­heit endet, son­dern all­zu oft in der Nähe brau­ner Ver­gan­gen­heit? Wer sind wir, die Deut­schen? Wo ist unser Ort? Und wer sind die anderen?

Freuschütz
Im Wald lau­ert das Dunk­le. (Bild: Screen­shot | Netflix)

Jochen Big­anz­o­li hat sich am Thea­ter Lübeck eben die­ser schwie­ri­gen Fra­gen ange­nom­men. Sein »Frei­schütz« ist kein Abbild roman­ti­scher Wäl­der, kei­ne Klang­selig­keit cho­ri­schen Gemein­sinns, son­dern eine Suche nach der deut­schen Iden­ti­tät in der heu­ti­gen Zeit. Die Geschich­te ist ja ein­fach, das Libret­to erzäh­le­risch dünn, doch tief in der deut­schen See­le ver­an­kert: Der Jäger­bur­sche Max (sic!) kann sei­ne Ange­be­tet Aga­the nur erlan­gen, wenn er einen beson­ders gelun­gen Schuss ablie­fert, dabei gerät er in den Ein­fluss dunk­ler Mäch­te, am Ende siegt das Gute und die Ver­su­chung fällt.

Die­ser Max (Tobi­as Häch­ler – ein jun­ger, soli­der Tenor mit bari­to­na­ler Stand­fes­tig­keit, sicher ein Gewinn für das seit dem Weg­gang von Dani­el Jenz reich­lich unter­re­prä­sen­tier­te Fach am Lübe­cker Hau­se) ist hier ein hoch­zwei­feln­der und gefüh­li­ger jun­ger Mann, mit Man-Bunch, der Jäger­rock ein schil­lernd-grü­ner Pail­let­ten-Anzug, Uni­form der Show­büh­ne. Der wan­delt durch sei­nen inne­ren Wald, eine fah­le, schwarz-wei­ße Video­welt mit wum­mern­dem Herz­schlag, die Iko­no­gra­phie erkenn­bar zwi­schen den Spiel­or­ten des »Blair Witch Pro­ject« und der aktu­el­len Net­flix-Serie »Dark«. Dort, im der­zeit so ange­sag­ten For­mat seri­el­ler Erzähl­wei­se, wird nicht nur mit dem dif­fu­sen deut­schen Natio­nal­wald gear­bei­tet, son­dern auch mit einer ande­ren deut­schen Befind­lich­keit, der eben­so dif­fu­sen Angst vor der Radio­ak­ti­vi­tät. In die­sem popu­lä­ren Gen­re, vol­ler »Thrill« und »Sca­ri­ne­ss«, Begrif­fe die die »Schau­er­lich­keit« der Roman­tik in heu­ti­ger Zeit ersetzt haben, spie­len die 11,4 Mil­lio­nen Hekt­ar Wald­flä­che der Bun­des­re­pu­blik die ent­schei­den­de Rolle.

Kurio­ser­wei­se sind es auf der Büh­ne nicht die auf Emo­tio­na­li­sie­rung aus­ge­rich­te­ten Bil­der der Kunst­welt, die die größ­te Wir­kung haben, son­dern das tro­cke­ne Erklär­vi­deo über das fach­ge­rech­te »Auf­bre­chen eines Reh­wil­des«, das dem Publi­kum sei­ne Natur-Ent­frem­dung auf die Nase bin­det. Auch dies ist ein gelun­ge­ner Kunst­griff, eines Regie­kon­zep­tes, das sich der Dekon­struk­ti­on von Begrif­fen ver­schrie­ben zu haben scheint.

Freischütz
Dark & Glit­ter (Bild: Paul Leclaire)

Dem spielt die Anla­ge des Inte­rims-GMD Andre­as Wolf in die Hän­de, sei­ne Inter­pre­ta­ti­on des Weber­schen Kon­zept der Roman­tik ist der Indi­vi­dua­li­tät Franz Schu­berts näher als man zuvor gedacht hät­te. In der Tat steckt im Klang­ma­te­ri­al eini­ges mehr an Über­zeich­nung und Direkt­heit als man ange­sichts von »Jung­fern­kranz« und Schüt­zen­fest­ge­klin­gel anneh­men möch­te. Sol­cher­lei Façet­ten her­aus­zu­ar­bei­ten, zeugt von inten­si­ver Aus­ein­an­der­set­zung mit dem Stoff und der Insze­nie­rung, und tat­säch­lich scheint das stets soli­de Lübe­cker Orches­ter durch die Zusam­men­ar­beit mit die­sem Diri­gen­ten zu wach­sen und zu gedei­hen, eine indi­vi­du­el­le Klang­far­be zu ent­wi­ckeln, die sich her­aus­hebt. Im Janu­ar steht die Beru­fung eines neu­en Gene­ral­mu­sik­di­rek­tors am Hau­se an, es bleibt in die­sem Fal­le zu wün­schen, dass sich nichts ändert, damit sich noch mehr ändert.

Erqui­ckend sind in die­sem Kon­text auch ande­re Ver­tre­ter des Stamm­per­so­nals des Lübe­cker Ensem­bles, zuvor­derst die sonst stets ein wenig im Hin­ter­grund ste­hen­de Andrea Sta­del, die hier, von Regie und Diri­gat getra­gen, mit unge­heu­rer Spiel­freu­de agiert. Ihr Änn­chen ist ein star­ker Gegen­part zur bra­ven und der im Libret­to bis zur Lang­wei­le bra­ven Aga­the, sinn­lich lockend und phy­sisch prä­sent, vol­ler Zwi­schen­tö­ne und Irr­lich­te­rei­en. Da hat es die aus Mexi­ko stam­men­de Maria Fer­nan­da Cas­til­lo als Aga­the schwer, gegen solch eine Spiel­ge­walt anzu­kom­men. Doch das spielt kei­ne Rol­le, es ist Kon­zept­ar­beit ange­sagt, da hilft auch kein wie­der ein­mal vol­ler Witz spie­len­der und sin­gen­der Taras Kon­o­chen­ko, der den vom Teu­fel ver­führ­ten Cas­par gibt.

Denn – die Geschich­te zer­bricht und der gan­ze Wolfs­schlucht­zau­ber, der auch hier auf der Video­wand in fla­ckern­dem Nacht­sicht-Schwarz-Weiß statt­fin­det, wird Maku­la­tur. Der drit­te Akt, nach der Pau­se, die hier, wie bei Big­anz­o­lis letz­ter Lübe­cker Arbeit, Schre­kers »Fer­nem Klang«, ein Teil der Dra­ma­tur­gie ist, führt all das zusam­men, was ange­legt ist in Wir­kungs­ge­schich­te und Werk, im Wald und im Mythos. Ein Teil des Publi­kums fin­det sich auf der Büh­ne wie­der, auf Bier­bän­ken sit­zend, etwas betre­ten in die Spiel­hand­lung schau­end. Rings her­um auf­ge­stellt Iko­nen des Deutsch­seins: Ein Papp­ka­me­rad Mesut Özils mit dem Welt­meis­ter­po­kal, natür­lich Ange­la Mer­kel und Bay­reuth, der deut­sche Papst, ein über­di­men­sio­na­ler Anti-Atom­kraft-Sti­cker, der Play­mo­bil-Luther – ein pop­kul­tu­rel­les deut­sches Mount Rushmore.

Über allem glit­zernd, gleich einem Band­na­men, das Wort der Deut­schen, die »Angst«. Da ist sie, vor­ge­tra­gen in der »Deut­schen Natio­nal­oper«, das tief ver­an­ker­te Kol­lek­tiv­ge­fühl und damit auf den Punkt gebracht, was das his­to­risch zer­ris­se­ne Land eint und auch zusammenhält.

Freischütz
Pop. Oper. Angst. (Bild: Paul Leclaire)

Ein­ge­spielt wer­den Reden natio­nal-kon­ser­va­ti­ver Poli­ti­ker einer Par­tei, die die­ses Gefühl kul­ti­viert wie kei­ne ande­re. Liest man das jüngst erschie­ne­ne Inter­view mit Björn Höcke im Maga­zin DER SPIEGEL, wird einem noch deut­li­cher, wie alles zusam­men­hängt, der Bezug zum »Wald­gän­ger« Ernst Jün­gers und der Mythos, die dunk­le Bedro­hung und die Iden­ti­täts­su­che, die Furcht und auch das deut­sche Nationalgefühl.

Und hier zeigt sich die wah­re Macht der Kunst­form Oper, nicht beleh­rend zu wir­ken, wie die unzäh­li­gen Stü­cke über Flücht­lin­ge und Inte­gra­ti­on im deut­schen Sprech­thea­ter, jenes gera­de­zu zwang­haf­te Bemü­hen, die aktu­el­le gesell­schaft­li­che Situa­ti­on zu spie­geln und zu kom­men­tie­ren. Die­se Ver­krampft­heit deut­scher Dra­ma­tur­gien geht die­ser Insze­nie­rung kom­plett ab, sie schöpft aus ihrem his­to­ri­schen Mate­ri­al, kann sich durch die emo­tio­na­li­sie­ren­de Wir­kung der Musik neue Bedeu­tungs­räu­me eröff­nen. Hier steht Tra­di­ti­on neben Zeit­ge­sche­hen, berührt The­men und Zuschau­er. Kurz, es ist dar­stel­len­de Kunst, wie sie sein muss, der Sta­chel im Fleisch der Arri­vier­ten, der Reak­tio­nen und Nach­den­ken hervorruft.

Das funk­tio­niert in Lübeck ganz her­vor­ra­gend, denn inzwi­schen gibt es in der Tat eine klei­ne Auf­re­gung im Bür­ger­tum, die Lokal­zei­tung sam­melt Vol­kes Stim­me zum mög­li­chen Thea­ter­skan­dal, es gibt Publi­kums­ge­sprä­che, ohne den Wald und all das Gewohn­te. In die­sem Land, des­sen nach eige­ner Aus­sa­ge »bedeu­tends­ter Medi­en­preis« »Bam­bi« heißt, ist das nicht wei­ter über­ra­schend. Aber es ist Kunst in der Demokratie.

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