»Dieser Ort ist wie eine Insel, abseits der Stadt, ein wenig verwunschen. Ich stelle mir immer vor, wie Pierrot hier seine Streiche macht.« Wioletta Hebrowska ist begeistert. Die Mezzosopranistin, im Lübecker Opernhaus Solistin in vielen großen Produktionen, ist aber auch ein wenig aufgeregt. Zum ersten Mal gastiert das Lübecker Musiktheater mit einem Kammerkonzert in dem alten Werftgebäude, der Kulturwerft Gollan.
Die Werfthallen sind restauriert, doch ein wenig fühlt man sich an die verfallenen Industrielandschaften in Andrej Tarkovskijs »Stalker« erinnert, so als würde jeden Moment eine der wegbezeichnenden Schraubenmuttern um die Ecke fliegen. Doch an diesem lauen Sommerabend mag niemand an die grobkörnigen Bilder des russischen Avantgardisten denken, die Luft ist warm und hell. Die Halle füllt sich viel schneller als erwartet, auf dem Programm stehen stehen zwei Werke des als kompliziert geltenden Zwölftöners Arnold Schönberg. Das Konzert ist in vielerlei Hinsicht ein Experiment, der Ort ist auch für das Publikum neu und unbekannt, die Akustik in den meterhohen Hallen heikel und das Ensemble hat sich in Eigeninitiative zusammengefunden und spielt zum ersten Mal in dieser Besetzung. Panagiotis Papadopoulos, der Dirigent und neben Hebrowska Mitinitiator des Abends meint: »Das Theater hat einige Räume, wo Kammermusikkonzerte in der Regel stattfinden, aber keiner davon passte uns. Als wir hier hineinkamen, wussten wir, das ist der richtige Ort.«
Mit dem Programm haben es sich die Musiker nicht ganz einfach gemacht, Schönberg ist in der Regel nichts für den Abonnementszuhörer, die Hemmschwelle ist hoch: »Als wir angefangen haben, waren wir so begeistert, dass wir dachten, es kommen 500 Leute und alle lieben Schönberg. Aber wir haben dann gesehen, die Leute haben Angst davor. Unsere Idee ist, dass das Publikum eine Sympathie für uns hat und diese Sympathie wird sich auf Schönberg übertragen.« sagt Wioletta Hebrowska
In der Tat: Mit Arnold Schönbergs früher Kammermusik “Verklärte Nacht” op. 4 in so eine Halle zu gehen ist eine erstaunliche Erfahrung. Das delikate Vorkriegs-Frühwerk, das sich inhaltlich an Richard Dehmels vitalistisch-lustvoller Dichtung der Zeitenwende vor dem ersten Weltkrieg orientiert, flirrt nur so in diesem hohen Raum mit all seiner Vanitas-Symbolik, der Aura von Verfall und Neubeginn. Viele bedeutendere und eingespieltere Ensembles haben diese hochromantische und den Umbruch in der Tonalität antizipierende Symphonische Dichtung in der Vergangenheit eingespielt, doch das “hat schon gespielt” hat überhaupt keine Bedeutung für das Lübecker Kammermusikensemble, das an diesem Abend und in beiden Stücken aus Evgeny Makhtin, Franziska Ribbentrop, Vera Dörmann, Christian Jonkisch, Fabian Schultheis, Natalia Schultheis, Waldo Ceunen, Klaus Reichwein und Bertan Balli besteht. Sie musizieren so neu miteinander, als wäre das Stück eine Uraufführung, loten den Raum Takt um Takt, Note um Note aus, um ihn sich dann ganz anzueignen. Schon das ist stark, der Einstieg in Schönbergs Welt ist so geglückt, wie er nur sein kann.
Ungleich komplexer, weil vielgliedriger, ist das spätere Werk Schönbergs, das den zweiten Teil des Abends füllt, “Pierrot Lunaire”, op. 21 von 1912. Gesetzt ist es für Sprechstimme und Kammerensemble, ganze Diseusengenerationen haben sich daran versucht und sind oft großartig gescheitert. Die Idee, eine “echte” Sängerin mit diesem Werk zu konfrontieren ist eigentlich folgerichtig, aber nicht neu.
»Ich wollte dieses Werk mit einer dunkleren Stimme machen, nicht mit einer normalen Sopranstimme, und ich brauchte die Verrückheit, die sie hat.«, sagt Panagiotis Papadopoulus leicht amüsiert vor der Aufführung. Der Sprache der 21 Gedichte des belgischen Symbolisten Albert Giraud ist heutzutage schwer zu folgen, erscheint wie aus fernen Zeiten in Form und Gestalt, aber, so meint der Dirigent, “Uns hat der enge Zusammenhang zwischen Text und Musik interessiert. Wir wollten sehen, wie Schönberg musikalisch diese Bilder im Pierrot übersetzt.” – “Die Musik ist so transparent, das alles was man im Text suchen würde, schon in der Musik gefunden werden kann.” ergänzt Hebrowska.
Das Ergebnis dieser Überlegungen ist tatsächlich folgerichtig und gleichermaßen verblüffend. Ganz und gar ungehörtes ist zu hören, eine Gestaltung des “Sprechstimmen”-Parts, die alle Register eines geschulten Mezzos nutzt. Es ist im eigentlichen Sinne Gesang, der sich im Ursprung seines Entstehens zeigt, in der Umsetzung des Atems in Laute, Töne, Stimme – onomatopoetische Grenzgänge, die das Sprachliche auflösen, ein “prima la musica” anderer Art. Das Timbre Hebrowskas, die von Papadopoulus berufene “dunkle Stimme” erdet das Werk, schafft ein fast schon archaisch zu nennendes Fundament der so überaus elaborierten Texte Girauds. Man hört in diesem Moment das Visionäre der atonalen Komposition, in ihrer Auflösung des Gewohnten, spürt aber zugleich die starke Verwurzelung in der Tradition. Expliziter kann man sich nicht auf ein Werk einlassen.
Akustisch schwierig gestaltet sich allerdings die Verstärkung der Singstimme im “Pierrot”. So kommt die Stimme von Wioletta Hebrowska, die keinen Oberrang je zu fürchten hatte, in den Höhen klirrend und zuweilen leicht unverständlich aus der mobilen Bose L1-Tonanlage, der Respekt vor dem neuen, großen Raum hat zu ihrem Einsatz geführt und es wird deutlich, dass diese Entscheidung nicht ganz die richtige war. Eine Petitesse, angesichts dessen, was zu hören ist.
Man spürt: Es ist alles Versuch, Entdeckung, unbekanntes Terrain. Es hat sich etwas Neues gefunden. Musiker, die aus ihrer Lohnverpflichtung, die sie stets mit höchster Professionalität ausüben, heraustreten und sich neugierig herantasten an das zu Entdeckende des gemeinsamen Musizierens. Man sieht in jeder Bogenbewegung die Konzentration, jeder Blick zum Dirigenten hat etwas Spannungsgeladenes, jeder Moment zeigt Vorsicht wie Neugier. Zuhörer wie Musiker sind an diesem Sommerabend vereint im Neuen, im bisher Ungehörten und im bisher Ungespielten.
Daraus schöpft die ungeheure Kraft dieses Konzerts, hebt sich eine dynamischer Entwicklung hervor, die den Musikern erst viel später gewahr werden wird, die Entdeckung ihres schaffenden Potenzials aus dem Geist der Musik. Für ein Publikum kann es kaum etwas berührenderes geben, so wie hier in die Nacht entlassen zu werden. Allerlei Glück, wenn, wie es im Dehmels Gedicht steht, “Menschen gehn durch hohe, helle Nacht”.
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