»Ich glaube, ich habe mein Herz geteilt«

»Eine medi­zi­nisch-thea­tra­le Recher­ché über Leben und Tod im deut­schen Gesund­heits­we­sen« nennt Tuğ­sal Moğul sei­nen aktu­el­len Abend WIR HABEN GETAN, WAS WIR KONNTEN im Maler­saal des Deut­schen Schau­spiel­hau­ses Ham­burg. Der diplo­mier­te Schau­spie­ler, Anäs­the­sist und Not­arzt arbei­tet neben sei­ner 50-Pro­zent-Stel­le in einem Lehr­kran­ken­haus in Müns­ter – mehr­fach aus­ge­zeich­net – als Autor und Regis­seur. Stü­cke wie HALBSTARKE HALBGÖTTER oder LASSEN SIE MICH DURCH, ICH BIN ARZT beschäf­ti­gen sich mit den absur­den wie dra­ma­ti­schen Umstän­den, die ein durch­öko­no­mi­sier­tes Gesund­heits­sys­tem mit sich bringt. Die Urauf­füh­rung sei­nes neu­es­ten Stü­ckes DEUTSCHE ÄRZTE GRENZENLOS ist für den 26. Janu­ar 2021 am Thea­ter Müns­ter geplant.

Vie­le dei­ner Stü­cke machen Ent­wick­lun­gen an unse­ren Kran­ken­häu­sern zum The­ma. Bei »Halb­star­ke Halb­göt­ter« bist du bei der Ver­mi­schung von Medi­zin und Thea­ter so weit gegan­gen, die Schau­spie­ler ans EKG anzu­schlie­ßen. Was haben Thea­ter und Ope­ra­ti­ons­saal für dich gemeinsam?

Das Inter­es­se, den Men­schen in sei­nem Inners­ten zu begrei­fen. Im Stück waren es Life-EKGs, wie wir sie auf der Inten­siv­sta­ti­on nut­zen, die die Herz­fre­quenz der Schau­spie­ler wäh­rend der Vor­stel­lung maßen. Die Wir­kung war enorm. Man sieht ja das Herz förm­lich auf der Bühne.

Wo schlägt dein Herz, Tuğ­sal? Bild: Lin­da Rosa Saal

Wo schlägt dein Herz stär­ker – auf der Büh­ne oder im OP?

Ich glau­be, ich habe mein Herz mitt­ler­wei­le geteilt. Bei »Wir haben getan, was wir konn­ten« war es beson­ders krass: Wir hat­ten am Frei­tag Pre­miè­re, und in der Woche drauf saß ich wie­der in Müns­ter im OP-Saal und habe Nar­ko­sen gemacht – mit dem Wis­sen, die letz­ten sechs Wochen hast du im Thea­ter ver­bracht und dich eigent­lich mit dem Über­bau des Medi­zin­the­mas beschäf­tigt. Ich weiß, dass ich das Kran­ken­haus als einen Ort emp­fin­de, an dem ich auf jeden Fall sein will – und wo ich mei­ne Quel­len habe – durch den Kon­takt zu den Kol­le­gen und Pati­en­ten: vom Harz-4-Emp­fän­ger bis zur Pro­fes­so­rin kom­men alle in die Anästhesiesprechstunde.

Dein Blick auf die Medi­zin­welt ist gna­den­los und lie­be­voll zugleich. Wie siehst du den Kli­nik­all­tag heute?

Als ich von Niels Högel las (Der Kran­ken­pfle­ger hat­te Pati­en­ten lebens­be­droh­li­che Medi­ka­men­te gespritzt, um sie danach zu reani­mie­ren. Am Tag nach der Pre­miè­re wur­de er in 85 Fäl­len wegen Mor­des schul­dig gespro­chen, Anm. d. Red), war mei­ne ers­te Reak­ti­on, das hät­te über­all in Deutsch­land pas­sie­ren kön­nen. Das Sys­tem ist so über­for­dernd, das medi­zi­ni­sche Per­so­nal so unter Druck, dass man gar nicht mehr die Mög­lich­keit oder die Lust hat zu fra­gen, wie es dem Kol­le­gen geht oder wie er sei­nen Job macht. Hät­ten die Chef­ärz­te sich von den Medi­zin­öko­no­men nicht das Ruder aus der Hand neh­men las­sen, hät­ten wir heu­te viel­leicht wirk­lich das bes­te Gesund­heits­sys­tem der Welt.

Aber durch die Agen­da 2010 und durch die Pri­va­ti­sie­rung der Kli­ni­ken stan­den Tür und Tor für geld­gie­ri­ge Kon­zer­ne offen, um sich die Kli­ni­ken anzu­eig­nen und dar­aus Wirt­schafts­un­ter­neh­men zu machen. Seit­dem sind Kran­ken­häu­ser Dienst­leis­tungs­un­ter­neh­men: Wir müs­sen gewis­se Leis­tun­gen erbrin­gen, damit das Haus ein Plus erwirt­schaf­tet. Und dafür wer­den sehr vie­le OPs durch­ge­führt, die womög­lich gar nicht indi­ziert wären – auch wenn ich als Anäs­the­sist natür­lich nicht befugt bin, das zu beur­tei­len. Aber die Anzahl an Arthro­sko­pien, Hüft­ge­lenks- oder Herz­ka­the­ter-OPs hat in den letz­ten 20 Jah­ren enorm zuge­nom­men. Die Kon­zer­ne kon­zen­trie­ren sich dar­auf, wäh­rend ande­re Fach­be­rei­che wie Kin­der­kli­ni­ken eben nicht pro­fi­ta­bel sind. Wir sind natür­lich nicht das ein­zi­ge Land, in dem es so läuft, das ist eine glo­ba­le Entwicklung.

Wie hat die Coro­na-Zeit dich als Arzt beeinflusst?

So selt­sam es klingt: Sie hat dazu geführt, dass ich mich wie­der als Arzt gefühlt habe. Ich hat­te wie­der mehr Ver­ant­wor­tung. Eine Kli­nik funk­tio­niert im All­tag ja wie eine Fabrik. Du kommst mor­gens hin, siehst, wel­che OPs du hast und ziehst die durch. Aber in der Coro­na-Zeit waren plötz­lich vie­le Mei­nun­gen mög­lich, und die mone­tä­re Kau­sa­li­tät war außer Kraft gesetzt. Ideen waren gefragt. Man hat gemerkt, dass das Sys­tem lebt, die Wert­schät­zung unter­ein­an­der gespürt.

Was hat Coro­na mit dir als Regis­seur gemacht? Abge­se­hen von den öko­no­mi­schen Zwän­gen – wie kann Thea­ter jetzt funk­tio­nie­ren, bevor es die Imp­fung gibt?

Mein Stück »Deut­sche Ärz­te gren­zen­los« soll­te am 12.03.2020 in Müns­ter urauf­ge­führt wer­den. Zwei Stun­den davor waren wir im Lock­down, weil 25 Leu­te im Thea­ter posi­tiv getes­tet wur­den. In den Maler­saal im Schau­spiel­haus dür­fen zu »Wir haben getan, was wir konn­ten« momen­tan 30 Zuschau­er. Bei der Pre­miè­re saßen gefühlt 20 Kri­ti­ker und 10 regu­lä­re Besu­cher. Das fühlt sich eher wie ein münd­li­ches Staats­examen an. Ich muss ehr­lich sagen, bei der Pre­miè­re hät­te ich nicht Schau­spie­ler sein wol­len. Es ist so viel schwe­rer, den Zau­ber her­zu­stel­len. Natür­lich ist es wich­tig, wei­ter Thea­ter zu machen, aber es ist ein stark ver­än­der­tes Erleb­nis – für das Publi­kum wie für die Schau­spie­ler. Man merkt, die Zuschau­er sind ver­hal­ten. Sie gehen nicht mehr so in der Grup­pe auf wie zuvor.

Gesund­heits­we­sen im Öko­no­mie­wahn. Gei­ge: Swant­je Tess­mann, Spiel Chris­toph Jöde. Bild: Arno Declair

Jeder von uns hat die­se Ärz­te in den Kli­ni­ken schon gese­hen – zeit­lich und kräf­te­mä­ßig am Limit. War­um ist das Sys­tem so?

Ärz­te sind sicher hoch­ge­bil­det, aber bis zu einem gewis­sen Grad maso­chis­tisch ver­an­lagt. Man klagt nicht. Übri­gens ähn­lich am Thea­ter: Man hält kei­ne Ruhe­zei­ten ein, ist immer da. Kla­gen ist etwas Ver­pön­tes, und des­we­gen gehen alle über ihr Limit. Mit Ende 20, Anfang 40 kann man alles noch kom­pen­sie­ren und schafft auch einen 24-Stun­den-Dienst. Irgend­wann habe ich per­sön­lich gemerkt, ich schaf­fe das nicht mehr. Da fiel dann die Ent­schei­dung für eine 50-Pro­zent-Stel­le, und dafür, die rest­li­chen 50 Pro­zent mei­nen ande­ren Beruf zu machen.

Irgend­wie ist bei­den Sys­te­men eine gewis­se Selbst­auf­ga­be eigen. Die­ses Sich-mit-Haut-und Haar-Hin­ein­stür­zen wird sowohl am Thea­ter erwar­tet als auch im Kli­nik­be­trieb, oder? Du hast dir ja gleich zwar »Mit-Haut-und-Haar-Beru­fe« ausgesucht.

Irgend­was kann mit mir nicht stim­men, oder? (lacht) Das Gute ist: Ich habe nicht den Druck, jedes Jahr zwei bis drei Insze­nie­run­gen machen zu müs­sen. Wenn mich ein The­ma anspringt wie die­se drei Kran­ken­haus­ver­bre­chen in »Wir haben getan, was wir konn­ten«, dann kann ich das machen. Ich fin­de es wun­der­bar, Men­schen am Thea­ter zu begeg­nen, die es wirk­lich schaf­fen umzu­set­zen, was ich mir aus­den­ke – das berührt mich enorm. Für mei­ne Art zu arbei­ten, ist das Ver­trau­en der Schau­spie­ler enorm wich­tig. Wenn ich das bekom­me, ist so viel möglich.

Bei dir ruft nicht die Dra­ma­tur­gin an und sagt, wir machen nächs­te Spiel­zeit Stück X. Du kehrst das Sys­tem eher um.

Ich mel­de mich und sage, ich habe was für euch. Ein The­ma muss mich trig­gern. Mein NSU-Stück »Auch Deut­sche unter den Opfern« bei­spiels­wei­se – da habe ich mich bei jeder neu­en Mord­mel­dung gefragt: Wer bringt denn so wahl­los Men­schen um? Das Thea­ter Müns­ter hat mir Zeit für die Recher­ché gege­ben. Also war ich über neun Mona­te hin­weg immer wie­der in Mün­chen bei den Prozessen.

Ich hat­te eine sol­che Wut im Bauch: All die Feh­ler, die bei den Ermitt­lun­gen der Staats­an­walt­schaft und der Poli­zei ent­stan­den sind – ich fand es unfass­bar, bei dem Pro­zess immer nur von Ein­zel­tä­tern zu hören und dass nie zuge­stan­den wur­de, dass es eine orga­ni­sier­te Ter­ror­grup­pe war. Immer wur­de die Schuld nur in der Ver­wandt­schaft oder Nach­bar­schaft oder unter den Freund*innen der Opfer gesucht. Dass man nicht mal auf die Idee gekom­men ist, dass es Nazis waren…! Migra­ti­on, Ras­sis­mus, Medi­zin, das sind die Grund­the­men, wozu ich immer wie­der Ideen für die Büh­ne ent­wi­ckeln möch­te. Ich lie­be Tschechow, aber ich weiß nicht, ob ich einen »Iva­nov« machen will.

Barock-Ele­men­te auf der Büh­ne, Musik von Pur­cell. Zu sehen Yorck Dippe, Ute Han­nig, Chris­toph Jöde. Bild: Arno Declair

In dei­nem aktu­el­len Stück »Wir haben getan, was wir konn­ten« kommt Musik von Pur­cell vor, und die Kos­tü­me haben Barock­ele­men­te. Bei allen Figu­ren geht es um Macht über Leben und Tod. Ich muss­te an die Herr­scher die­ser Zeit den­ken – völ­lig der Rea­li­tät ent­ho­ben und von Macht besessen.

Alle drei Figu­ren haben die Nähe zu Krank­heit und Tod – das war in der Barock­zeit durch Pest und den 30-jäh­ri­gen Krieg auch so. Zudem der schö­ne Schein: Unter den kunst­vol­len Perü­cken mieft es, es modern die Pil­ze. Und für mich gab es eine Par­al­le­le zu die­sen durch­öko­no­mi­sier­ten Kran­ken­häu­sern, die immer schö­ner wer­den: die­se Emp­fangs­be­rei­che mit ihren Kla­vie­ren, die eher wie ein Hotel­foy­er anmu­ten, aber hin­ten läuft die­se Maschi­ne­rie mit viel zu wenig Per­so­nal und ver­knapp­ten Res­sour­cen. Und die drei Figu­ren, die­se Anti­hel­den, soll­ten, auch wenn sie schreck­li­che Men­schen sind, nicht so expo­niert daste­hen. Ich woll­te zei­gen, dass so etwas nur in einem der­ma­ßen mit Geld auf­ge­bläh­ten Sys­tem mög­lich ist.

Und ja, es geht um die­se Form von Macht, Ent­schei­dun­gen über Men­schen zu fäl­len. Wenn ein Apo­the­ker Che­mo­the­ra­pie-Medi­ka­men­te an die Pati­en­ten wei­ter­gibt, die nur zehn Pro­zent des Wirk­stoffs ent­hal­ten, das aber bei den Kas­sen voll abrech­net – die­se Hybris, sich über Leben und Tod zu erhe­ben, das passt schon auch in die Barock­zeit. Högel, der erzählt, wie er es genos­sen hat, Men­schen zu reani­mie­ren, der mit ihrem Tod spielt, um sie wie­der ins Leben zurück­zu­ho­len – das hat etwas irre Absur­des, im nega­ti­ven Sin­ne Gott­glei­ches. Oder die Figur der Ire­ne Becker, die aus­spricht, was vie­le Kran­ken­pfle­ger den­ken: Der Pati­ent hat Par­kin­son, Alz­hei­mer und einen Herz­in­farkt – was soll man da noch the­ra­pie­ren? Oft fra­gen wir uns das auf der Inten­siv­sta­ti­on, wenn eine 90-Jäh­ri­ge noch eine gro­ße OP bekommt und man weiß, sie wird danach bett­lä­ge­rig sein, kör­per­lich oder geis­tig schwer behin­dert. Wenn man damit täg­lich kon­fron­tiert ist, kön­nen sol­che Abar­tig­kei­ten wie in den drei geschil­der­ten Fäl­len entstehen.

Unter Druck: Medi­zi­ner im Kli­nik­all­tag. Es spie­len: Yorck Dippe, Ute Han­nig, Gei­ge: Swant­je Tess­mann. Bild: Arno Declair

Im Stück wird deut­lich, dass die drei Kri­mi­nal­fäl­le nur durch jah­re­lan­ges Weg­schau­en mög­lich sind. Begüns­tigt das Kran­ken­haus-Sys­tem das Weg­schau­en? Oder ist es womög­lich sogar sym­pto­ma­tisch für unse­re Gesell­schaft? Ist es umso wich­ti­ger, dass man im Thea­ter hin­schaut?

Gute Fra­gen. Wir unter­schrei­ben zwar alle das Ärz­te­ge­löb­nis, den moder­nen hip­po­kra­ti­schen Eid, aber der öko­no­mi­sche Druck ist so groß gewor­den, dass bestimm­te ethi­sche Fra­gen hint­an­ge­stellt wer­den. Bei­spiel­wei­se wer­den Chef­ärz­ten Boni­zah­lun­gen in Aus­sicht gestellt, wenn sie in einer bestimm­ten Zeit­span­ne noch mehr ope­rie­ren – und bei Schwes­tern und Pfle­gern wie­der­um wird gekürzt. Ob die Gesell­schaft an sich die Wür­de des ande­ren aner­kennt und Mit­men­schen Respekt zollt, spie­gelt sich im Kran­ken­haus wider.

Ich glau­be sowie­so, dass das Kran­ken­haus einen Mikro­kos­mos unse­rer Gesell­schaft abbil­det. Am OP-Tisch ist der Ope­ra­teur aus Kame­run, der Assis­tenz­arzt Rumä­ne, die Schwes­ter kommt aus Polen – und die Pati­en­tin auf dem Tisch heißt Ute. Das bil­det die Struk­tur­ver­än­de­run­gen der deut­schen Gesell­schaft viel deut­li­cher ab als Thea­ter es je könn­te. Hier ist es noch nicht nor­mal, Ham­let mit einem Schau­spie­ler aus Kame­run zu beset­zen – ohne dass das kon­tex­tua­li­siert wird.

Wenn also das Kran­ken­haus die Gesell­schaft abbil­det mit all dem Poten­zi­al, was da an Zwi­schen­mensch­li­chem mög­lich ist, wenn es fun­giert wie ein Brenn­spie­gel – kann das Weg­schau­en dann als sym­pto­ma­tisch ange­se­hen werden?

Gera­de was wir an poli­ti­schen Hal­tun­gen welt­weit beob­ach­ten kön­nen, fin­det man natür­lich am Kran­ken­haus wie unter einem Brenn­spie­gel ver­sam­melt. Da trifft man auf den Erz­kon­ser­va­ti­ven eben­so wie auf den links­li­be­ra­len Men­schen. Es ist also schon eine gute Abbil­dung. Und was die Wer­te der Gesell­schaft angeht: Die Durch­öko­no­mi­sie­rung fin­den wir letzt­lich über­all – und in den Kran­ken­häu­sern führt sie dazu, dass ethi­sche Fehl­ent­schei­dun­gen getrof­fen wer­den. Pati­en­ten haben ja immer noch die Hoff­nung, dass ihnen im Kran­ken­haus gehol­fen wird – was ja auch pas­siert. Aber du siehst die Schwes­tern ren­nen, alle sind im Stress. Das mag in allen Berei­chen so sein. Aber wenn es um Men­schen geht, um Leben und Tod, passt Öko­no­mie ein­fach nicht als Konzept.

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